Kirsten Boie zum Vorlesetag: "Eine bundesweite Initiative wäre schön"
Heute ist bundesweiter Vorlesetag, eine Initiative, die es seit 2004 gibt. Vorlesen macht Kinder empathischer, sagen Studien. Auch das Zuhören ist ganz wichtig in Zeiten von Smartphone und Tablets.
Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie ist seit längerem engagiert in der Leseförderung für Kinder. Ihr Wunsch: "Es wäre sehr schön, wenn wir eine Bundesinitiative zum Thema Lesen hätten."
Frau Boie, im November 2022 wurden 800 Eltern zu ihrem Vorleseverhalten befragt: Nur 61 Prozent der Ein- bis Achtjährigen in Deutschland bekommen in ihrer Familie regelmäßig vorgelesen. Vor zwei Jahren waren es noch 68 Prozent. Ist dieser besondere Einbruch erklärbar? Ist die Lage so hoffnungslos?
Kirsten Boie: Ich halte es nicht für hoffnungslos. Nein, ich habe im Gegenteil das Gefühl, dass sich das Bewusstsein dafür, dass Vorlesen wichtig ist und dass es beiden Seiten Freude machen kann, eher mehr durchsetzt.
Es gibt zunehmend Menschen, die mit dem Buch nichts anfangen können. Aber wenn es eine App zum Lesen und Vorlesen mit dem Kind gäbe, dann würde man die schon nutzen. Wäre das eine Lösung?
Boie: Ich hätte kein großes Problem, wenn vom E-Reader vorgelesen würde. Wenn Eltern nichts anderes zur Hand haben, halte ich das auch für eine Möglichkeit. Wichtig ist, dass die Kinder Geschichten hören und nicht immer nur Filme in verschiedenster Form sehen oder Spiele zocken. Das sollen sie auch alles machen, aber beim Hören und Lesen passiert im Kopf ganz viel mehr, weil ich mir alles selbst vorstellen muss. Ich habe die Bilder nicht vor mir, und muss auf mein eigenes Gefühls- und Gedächtnismaterial zurückgreifen. Deshalb kann es auch so eine wahnsinnig intensive Erfahrung sein.
Wer muss mit eingebunden werden, dass das, was man - im Bezug auf das Vorlesen - Abwärtsspirale nennt, gestoppt wird?
Boie: Es wäre ganz wichtig, wenn man die Eltern stärker erreichen könnte. Das kann über Kitas gelingen. Ich bin sogar ein Fan eines Ansatzes, der sagt: Schon die Hebammen, die später die Familie betreuen, sollen mit den Eltern über Bücher, Vorlesen und die Bedeutung des gemeinsamen Bücher-Guckens sprechen. Wir haben auch verschiedene Projekte, die so etwas fördern. In Hamburg gibt es Buchstart 1 - da bekommt jedes einjährige Kind bei der Vorsorgeuntersuchung U-6 vom Kinderarzt eine Tasche mit zwei Pappbilderbüchern und den Eltern wird erzählt, was sie damit machen sollen. Das erreicht 20.000 Kinder jedes Jahr. Und bei der viereinhalbjährigen Vorstellung der Kinder an ihrer zukünftigen Grundschule bekommen sie einen Rucksack mit einem Buch geschenkt: das "Hamburger Geschichten-Buch". Das ist extra geschrieben und gezeichnet worden, um in der Auseinandersetzung damit auch die Sprache der Kinder zu fordern.
Warum kann das nicht auch in Mecklenburg-Vorpommern, in Niedersachsen oder in Schleswig-Holstein so durchgesetzt werden? Braucht es dann nicht doch die bundesweite Initiative?
Boie: Über diese Frage freue ich mich sehr. Ja, ich denke, Sie haben Recht. Wir haben bei diesem Thema, wie bei vielen Bildungsthemen, des Föderalismus-Problem. Es wäre sehr schön, wenn wir tatsächlich eine Bundesinitiative zum Thema Lesen insgesamt hätten, bei der der Bund entscheiden würde, welche Projekte gefördert würden, und die Länder dann auswählen könnten, welche davon sie übernehmen möchten. Dann hätten wir den Föderalismus ausgetrickst. Die Entscheidung bliebe bei den Ländern und der Bund könnte finanziell unterstützen.
Das Gespräch führte Lenore Lötsch.