Timm Ulrichs steht 2024 vor einem ausgestellten Bild, das ihn 1975 zeigt in  einer Schwarzweißfotografie - mit Blindenbinde, Stock und schwarzer Brille, um den Hals ein Schild: "Ich kann keine Kunst mehr sehen". So ausgestattet tastete sich Timm Ulrichs 1975 über die Messe "Art Cologne" © Silke Arning, SWR
Timm Ulrichs steht 2024 vor einem ausgestellten Bild, das ihn 1975 zeigt in  einer Schwarzweißfotografie - mit Blindenbinde, Stock und schwarzer Brille, um den Hals ein Schild: "Ich kann keine Kunst mehr sehen". So ausgestattet tastete sich Timm Ulrichs 1975 über die Messe "Art Cologne" © Silke Arning, SWR
Timm Ulrichs steht 2024 vor einem ausgestellten Bild, das ihn 1975 zeigt in  einer Schwarzweißfotografie - mit Blindenbinde, Stock und schwarzer Brille, um den Hals ein Schild: "Ich kann keine Kunst mehr sehen". So ausgestattet tastete sich Timm Ulrichs 1975 über die Messe "Art Cologne" © Silke Arning, SWR
AUDIO: Der "Total-Künstler" und "Universal-Dilettant" Timm Ulrichs wird 85 (26 Min)

"Total-Künstler" und "Universal-Dilettant": Timm Ulrichs wird 85

Stand: 29.03.2025 18:33 Uhr

Schon früh forderte Timm Ulrichs mit einem Grabsteinentwurf dazu auf: "Denken Sie immer daran, mich zu vergessen!" Nun wird der Kunstprovokateur 85 und denkt vor allem darüber nach, wie er all seine Kunstwerke wieder los wird.

Am Montag wird der Sprachartist, Bildhauer und Performance-Künstler Timm Ulrichs 85 Jahre alt. Im Gespräch erzählt er, wie er einst von der Uni Hannover exmatrikuliert und zum Softeis-Verkäufer in Linden wurde und warum er mit Flugblättern und Manifesten immer aufs Neue provozierte. Des Weiteren berichtet Ulrichs, wie er durch eine maoistische Studentengruppe in Braunschweig zum Kunstprofessor wurde, wie gründlich er seine fast selbstzerstörerischen Kunstaktionen plante und warum seine Kunst immer ein Zuschussgeschäft war. Aktuell versuche er, seinen Nachlass an ein Museum zu bringen. Nein, sagt Ulrichs, er füge dem nichts Weiteres hinzu. Das Einzige, was noch fehle: "Ich müsste einen Œuvre-Katalog erstellen über die Werke, die ich der Welt erspart habe."

Herr Ulrichs, haben Sie eigentlich eine ungefähre Vorstellung davon, wie viele Kunstwerke Sie produziert haben?

Timm Ulrichs: Die Depots sind reichlich übervoll, man weiß gar nicht, wohin damit. Denn Kunst wird ja normalerweise nicht entsorgt, wie ein altes Auto oder Möbel, die man nicht mehr braucht - die stellt man zum Sperrmüll nach draußen oder gibt sie zum Schrotthändler. Das passiert im Regelfall mit Kunst nicht. Ich habe die Praxis ausgebildet, möglichst viel zu publizieren. Ein Œuvre-Katalog habe ich nicht gemacht - ich habe 2003 im Sprengel-Museum ein Druckgrafik-Werkverzeichnis gemacht. Das sind etwa 250 Nummern, also gar nicht so viel, aber es gibt sehr viele andere Dinge: kleine Auflagenobjekte, große Skulpturen, Installationen, Filme, Performances. Ich kann nur sagen, dass ich mengenmäßig - das hört sich jetzt anmaßend an - so viel geschafft habe wie Marcel Duchamp, nämlich 1.000 bis 1.500 Werke grob geschätzt, wobei man fragen muss, ab wann eine Idee einen Werk-Status hat.

Aber die Zahl macht es nicht. Seit Beginn meiner Tätigkeit arbeite ich immer mit Verlust. Ich subventioniere meinen Kunstbetrieb aus meinem Gehalt, meiner Pension, aber ich habe nie einen positiven Abschluss gehabt. Das hat das Finanzamt immer dazu gebracht, mir zu unterstellen, ich würde mir gar keine Mühe geben. Ich habe dem Finanzamt selber geraten, bei mir einzukaufen - das haben die aber auch nicht gemacht. Die nennen das eine "nicht erkennbare Gewinnabsicht".

Bedeutet das, Sie haben diese klassische "Spitzweg-Existenz" des armen Künstlers geführt?

Ulrichs: Faktisch schon, aber ich habe mich nie als solcher gefühlt. Ich habe immer Kunst als fröhliche Wissenschaft, als fröhliche Tätigkeit begriffen oder versucht zu begreifen. Ich war auch immer groß in der Vermeidung von Kunst. Man müsste eigentlich Künstler dafür bezahlen, dass sie nichts produzieren oder alle Jubeljahre mal ein Werk vorlegen und sich nur Gedanken machen. Denn es wird viel zu viel produziert. Es genügt ein revolutionärer Gedanke, man findet die Relativitätstheorie, kriegt den Nobelpreis und kann im Grunde das Leben als Mensch, der das genießt, was er geschaffen hat, verbringen. Man muss also nicht ständig produzieren und die Umwelt damit belasten - sowohl das Publikum als auch faktisch die Materialien, die die Umwelt liefert. Deswegen also müsste ich eigentlich ein Œuvre-Katalog über die Werke erstellen, die ich der Menschheit erspart habe. In meinen besten Jahren habe ich vielleicht im Jahr zehn bis 20 Arbeiten gemacht.

Wie kommt man überhaupt auf die Idee, etwas umsetzen zu wollen, was auf den ersten Blick eigentlich unmöglich scheint? Und wie geht es dann von der Idee konkret zum Werk - das ist ein langer Weg, oder?

Ulrichs: Ich habe mich nie als Maler, Fotograf oder Bildhauer sehen wollen, weil ich mal dies, mal jenes mache. Ich habe mal von mir als "Universaldilettanten" gesprochen, der seine Nase in alle Töpfe steckt, sich auch die Finger verbrennen kann, aber ich wollte nie Fachmann für irgendetwas werden. Ein Fachmann ist man, wenn man in einem Schrank ein bestimmtes Fach öffnet und schließt, aber ich will ganze Schränke, Regale oder Depots bedienen und mal dieses, mal jenes machen. Zumal sich zwischen den einzelnen Disziplinen, Handwerken und Materialien Verbindungen finden lassen, die wiederum ganz interessant sind. Gerade dieses Intermediale war für mich interessant. Auch die Handwerke habe ich ja nie gelernt - ich kann eigentlich gar nichts.

Diese Sendung ist eine Übernahme von SWR Kultur "Gespräch". Das Gespräch wurde geführt von Silke Arning. Das komplette Interview können Sie in der ARD Audiothek hören und überall, wo es Podcasts gibt.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Gespräch | 23.03.2025 | 15:00 Uhr

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