Was die Berliner Wahlwiederholung über unsere Zeit erzählt
Wenn am Sonntag in Berlin ein neues Landesparlament gewählt wird, ist das der Abschluss einer peinlichen Episode. Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke macht in der Hauptstadt-Wahlposse Probleme aus, die längst ganz Deutschland belasten.
Wenn am Sonntag das Berliner Landesparlament neu gewählt wird, kann man, ja muss man nach all dem, was in den letzten Jahren passiert ist, vor allem eines inständig hoffen: dass dieses Mal die Wahl ordentlich über die Bühne geht. Zur Erinnerung: Vor knapp 17 Monaten hat Berlin das letzte Mal gewählt, wobei es zu derart gewaltigen Pannen kam, dass das Verfassungsgericht die Wahl anschließend für ungültig erklärte - deshalb nun morgen die Wiederholung.
Damit endet, hoffentlich, eine Geschichte, die in dieser Republik einzigartig ist - und vielleicht doch symptomatisch für den Zustand des gesamten Landes. Erst ein Flughafen, der über Jahre nicht zustande kommt, dann eine illegitime Wahl, die weit über ein Jahr lang nicht korrigiert wird, außerdem Bürgerämter, die seit Jahren bei der Bewältigung der Anträge, seien es nun Führerscheine oder Einbürgerungsurkunden, nicht hinterherkommen - und zu schlechter Letzt eine Silvesternacht mit massivsten Ausschreitungen gegen Polizei und Feuerwehr.
Lage in Berlin ist nur die Spitze eines Eisbergs
Aber das bundesweit beliebte Bashing der "Bananenhauptstadt Berlin" ist hier fehl am Platz. Denn wie ahnte schon Karl Marx: Geschichte ereignet sich immer zweimal - erst als Tragödie und dann als Farce. Hier aber könnte es ausnahmsweise einmal andersherum sein: Die Farce in Berlin wäre dann bloß der Vorschein auf die Tragödie dieses Landes - und das Scheitern Berlins, und zwar nicht nur am Wahlrecht, das Symptom einer viel allgemeineren Staats- und Staatsvertrauenskrise.
Denn wie in einem Brennglas zeigen sich in Berlin die Probleme, die auch in ganz Deutschland existieren. Probleme mit einer zusammenbrechenden materiellen wie institutionellen Infrastruktur: zu spät eintrudelnde Züge, bröckelnde Brücken und marode Schulen, Gerichte, die erst nach Jahren die längst fälligen Urteile fällen, Behörden, die über Wochen keine Bescheide erteilen - all das sind Erscheinungen einer Schwächung des Staates, die dramatische Ausmaße annimmt.
In gewisser Weise ist die Lage in Berlin also nur die Spitze eines Eisbergs. Immer stärker wird der Eindruck, dass der Staat seinen Aufgaben nicht mehr gewachsen ist - und darüber auch das einstige Gütesiegel "Made in Germany" immer mehr an Wert verliert.
Dadurch entsteht eine fatale Eigendynamik. Denn in dem Maße, in dem der Staat an Handlungs- und Funktionsfähigkeit einbüßt, wächst auch die Kritik an ihm - und damit auch die Versuchung, dem Staat gerade deshalb immer weniger Ressourcen zukommen zu lassen.
Dieser Ruf nach einem "Gesundschrumpfen" des Staates steht jedoch in eklatantem Widerspruch zu der Tatsache, dass dem Staat angesichts der massiven Krisen immer mehr Aufgaben zukommen - und er damit zunehmend überfordert ist. So erleben wir eine fatale Abwärtsspirale, aus sich wechselseitig bestärkender Kritik am Staat bei dessen wachsender Überforderung.
Populisten als Nutznießer
All das spielt natürlich Populisten in die Hände, die schon lange gegen die Republik und ihre demokratischen Institutionen Front machen.
Beispiel Coronakrise: Drei Jahre nach ihrem Beginn werden jetzt - wie es sich für eine Demokratie gehört - die zum Teil auch falschen Maßnahmen mit aller Härte und Entschiedenheit bilanziert. Dabei aber wird, teilweise durchaus gewollt, unterschlagen, dass die Bundesrepublik im Fall der Pandemie mit einer völlig präzedenzlosen Herausforderung konfrontiert war und dass sie im Vergleich zu anderen Staaten immer noch ziemlich gut abgeschnitten hat.
Das Beispiel Corona zeigt also: Macht man sich die enorme Herausforderung des Staates nicht bewusst, spielt man, ob gewollt oder ungewollt, stets den Populisten in die Hände.
Immer mehr Aufgaben für die "Staatsdiener"
Was wir daher heute brauchen, ist eine echte Auseinandersetzung mit zwei Fragen. Erstens: Welche Aufgaben muss der Staat in diesen außerordentlichen Zeiten einer multiplen Krise übernehmen? Und zweitens, daraus abgeleitet: Was braucht er für ein ordentliches Funktionieren?
Um diese Fragen zu beantworten, gilt es eines immer zu bedenken: Alles, was die Politik in Gesetze gießt, muss anschließend auch tatsächlich durchgesetzt werden. Es landet am Ende also stets bei den Verwaltungen oder Gerichten.
Die vom Bundeskanzler ausgerufene "Zeitenwende" bedeutet daher auch, dass der Staat und damit die "Staatsdiener", also Beamte und Angestellte, im Zuge des Ukrainekrieges mit immer mehr Aufgaben konfrontiert und belastet werden. Beispiel Migration: Die Hunderttausende von Ukraine-Flüchtlingen müssen von den Verwaltungen erst registriert, dann untergebracht und schließlich verteilt werden, was übrigens Berlin als der meist erste Anlaufpunkt durchaus gut bewältigt hat.
Doch die "Zeitenwende" geht, was die Staatstätigkeit anbelangt, noch weit über den Krieg in der Ukraine hinaus. Jüngstes Beispiel Klimaproteste: Allein in Nordrhein-Westfalen werden jetzt 10.000 Polizeibeamte geschult, um gegen Klima-Aktivisten der Letzten Generation gleichermaßen bestimmt wie grundgesetzkonform vorzugehen. Bei alledem haben wir über die Mega-Herausforderung des Staates - nämlich die Umstellung aller Einrichtungen auf digitales Funktionieren - noch gar nicht gesprochen. Und dass ab jetzt die geburtenstarken Boomer-Jahrgänge in Rente gehen, wird weitere gewaltige Lücken reißen.
Wie lieb und teuer ist uns unser Staat?
Die derart massiv unter Druck stehende Rolle des Staates wirft daher zwei sehr grundsätzliche Fragen auf - nämlich eine materielle, nach den nötigen Aufwendungen, und eine immaterielle, mentale, nach unserer Haltung zum Staat. Sprich: Wie viel sind wir Bürgerinnen und Bürger bereit, für einen gut funktionierenden Staat und die Erledigung der öffentlichen Aufgaben aufzuwenden?
Denn genau das ist die eigentliche Gretchenfrage: Was ist uns unser Staat lieb und teuer?
Um diese Frage zu beantworten, gilt es zunächst einmal, die fatale Gegenüberstellung, ja Entgegensetzung von Staat und Bürger aufzulösen. In den letzten Jahren hat sich immer mehr die Annahme etabliert, dass der Staat nur als bloßer Dienstleister fungiert, den ein jeder jederzeit in Anspruch nehmen kann. Dadurch ist die eigentliche demokratische Grundhaltung - "l’état, c’est nous", der Staat, das sind wir alle - in Vergessenheit geraten. Nur wenn diese Haltung reaktiviert wird, wird es wieder die Bereitschaft geben, dem Staate das zukommen zu lassen, was er tatsächlich benötigt, um seine Aufgaben zu erfüllen.
Dafür aber gilt es von der individualegoistischen Haltung Abschied zu nehmen, die in den letzten drei Jahrzehnten regelrecht ins Kraut geschossen ist. Zur Erinnerung: Noch in den 1980er-Jahren, also unter der ewigen Regentschaft Helmut Kohls, bekanntlich von der CDU, sah die Besteuerung ganz anders aus. Die Vermögenden wurden damals weit stärker für die öffentlichen Angelegenheiten in Anspruch genommen. Dabei hat ihr Reichtum seither enorm zugenommen. Gar nicht davon zu reden, wie es in echten Krisenzeiten aussah, beispielsweise in den 1920er- und 30er-Jahren. Damals wurden von der Regierung Roosevelt in den Vereinigten Staaten Steuern von über 90 Prozent erhoben, um gegen die Weltwirtschaftskrise anzugehen.
Wenn wir dagegen heute ernst nehmen, dass wir uns in einer dramatischen Krisen-, ja sogar Kriegszeit in Europa befinden, dann steht umso drängender die Frage im Raum, wie viel wir heute bereit sind, dem Staat zur Verfügung zu stellen.
Viel spricht dafür, dass es einer noch viel längeren und weitergehenden Unterstützung für die Ukraine bedarf. Von der Notwendigkeit einer "Kriegswirtschaft" und dem massiven Hochfahren der Rüstungsindustrie ist bereits die Rede, schon um der Ukraine die erforderliche Munition zur Verfügung zu stellen. All das wird auch für die deutsche Bevölkerung erhebliche Wohlstandseinbußen bedeuten.
Die Besserverdienenden sind jetzt am Zug
Insofern bedeutet Zeitenwende auch, von der Geisteshaltung der letzten 30 Jahre Abstand zu nehmen, die da lautet: "Privat geht vor Staat". Heute werden wir uns ganz grundsätzlich die Frage stellen müssen, wie ein gesundes Verhältnis zwischen privaten und öffentlichen Ausgaben in Zukunft aussehen muss.
Die große Debatte, die wir heute führen müssen, lautet: Brauchen wir tatsächlich einen schlanken, aber schwachen Staat oder nicht vielmehr einen starken, gut ausgestatteten? Einen Staat, der in der Lage ist, seine gewaltigen und immer größer werdenden Aufgaben auch wirklich zu bewältigen.
Wenn dem so ist, dann werden wir uns das etwas kosten lassen müssen. Das aber bedeutet, dass wir auch eine Diskussion um die gerechte Beteiligung gerade der Starken und Vermögenden an den staatlichen Ausgaben führen müssen. Und das aus gutem Grund: Denn gerade die öffentliche Infrastruktur, ob Straßen, ob Bahnen, ob aber auch Theater oder Museen, wird weit mehr von den Besserverdienenden konsumiert und genutzt als von den Mittellosen und Empfängern des Bürgergeldes.
Auch wenn es viele in dieser Gesellschaft nicht gerne hören werden, kommt es jetzt darauf an, diesen Streit über die nötigen Steuern und Abgaben für den Staat offensiv zu führen. Auch - oder gerade weil - der Riss hier mitten durch die irrlichternde Ampel geht: mit einer FDP auf der neoliberalen, teilweise regelrecht antistaatlichen Seite, und Grünen und SPD, die sich dagegen weit mehr für einen starken Staat in die Bresche schlagen.
Aber zum Glück haben wir bei alledem ja einen Kanzler, der dem Land Führung in den wichtigen Fragen versprochen hat. In diesem Sinne, verehrter Herr Bundeskanzler, übernehmen Sie! Denn was wäre die Rolle des Staates anderes als - eine Chefsache!