Şeyda Kurt: "Hass kann Menschen aus der Ohnmacht holen"
Die meisten Menschen sind sich einig, dass Hass in einer offenen Gesellschaft nichts zu suchen hat. Şeyda Kurt zeigt in ihrem Buch "Hass - Von der Macht eines widerständigen Gefühls", dass Hass auch eine Kategorie der Ermächtigung sein kann.
Mit ihrem Buch "Radikale Zärtlichkeit" warf Şeyda Kurt 2021 den Liebesbegriff über Bord und erschuf ein utopisches Alternativkonzept. In ihrem neuen Buch geht es dieses Mal um das Gefühl des Hasses: um Hassende, Machtverhältnisse, die Hass wachsen lassen, und inwiefern Hass sinnvoll sein kann.
Hass hat einen sehr schlechten Ruf - zu Unrecht?
Şeyda Kurt: Zu Unrecht in dem Sinne, dass differenziert werden sollte, um welchen Hass und um wessen Hass es geht. In liberalen Demokratien und Gesellschaften gibt es immer moralisierende Appelle, wenn es zum Beispiel einen rechtsextremen Terroranschlag gab: Dann sagen Politiker*innen so etwas wie 'Hass hat bei uns keinen Platz'. Erstens wissen wir, dass das nicht stimmt - gerade Menschen, die von Rassismus betroffen sind oder durch Faschismus bedroht werden. Zweitens verschleiert das oftmals die politischen Ursprünge und Wurzeln - die sozioökonomischen Gründe für diesen Hass, der auch politisch systematisch hergestellt wird. Und drittens frage ich mich immer, um welchen Hass es eigentlich geht? Wer sind die Adressat*innen dieses Appells? Es scheint dann fast undenkbar, dass Menschen, die selbst von Rassismus oder Rechtsextremismus betroffen sind, hassende Menschen sein können. Das wird denen komplett abgesprochen. Um als Opfer anerkannt zu werden, müssen sie immer wieder beweisen, dass sie nicht zum Hass fähig sind und eigentlich nur verzeihende Menschen sind. Das hat auch eine Geschichte des Christentums, das hat eine Geschichte der Aufklärung - das kann man ideengeschichtlich und philosophiegeschichtlich sehr gut nachzeichnen.
Ist Hass ein zu allgemeiner Begriff? So wie ich Sie gerade verstanden habe, versuchen Sie den Hass zu dezentrieren: ihn auf verschiedene Verhältnisse zu beziehen.
Kurt: Ich glaube, dass Debatten und Diskurse generell sehr generalisierend geführt werden. Das weiß ich auch noch aus der Erfahrung mit dem ersten Buch. Gerade wenn in unserer Kultur über Gefühle gesprochen wird - und auch über politische Gefühle, dann gibt es das Bedürfnis, ganz einfache Kategorien aufzumachen, da irgendwelche Gefühle reinzupacken und sie mit negativ oder positiv zu versehen. Eigentlich sind das aber ethische Fragen, wo es sehr viel ums Handeln gehen sollte: Also wer handelt, warum und mit welchem Ziel? Diese Fragen werden extrem moralisiert und aufgefächert in Liebe ist gut, Hass ist böse. Ich wünsche mir generell eine differenziertere Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen. Wenn man den Hass erst einmal wieder vermenschlicht, ihn in den Verhältnissen von Macht und Herrschaft unter die Lupe nimmt und sich hassende Subjekte mal von der anderen Seite anschaut, dann kann er sehr viel zurückgeben - und auch Menschen aus der Ohnmacht herausholen.
Um zu differenzieren, ist es sinnvoll, eine Begriffsarbeit zu machen - so wie Sie das in Ihrem Buch getan haben. Eine andere Publizistin, die das in den letzten Jahren auch getan hat, ist Carolin Emcke mit "Gegen den Hass". Sie sagt und das zitieren Sie auch in Ihrem Buch: Hass sei ungenau. Es lässt sich nicht präzise hassen. Ihr Buch liest sich da im Grunde wie ein Gegenbuch.
Kurt: Carolin Emckes Buch "Gegen den Hass" kam irgendwie auch zur richtigen Zeit. Das war eine Zeit, wo Pegida gerade sehr populär wurde und islamfeindliche rechte Gesinnungen auch in den Mainstream gerückt worden sind. Obwohl sie da eigentlich nie verschwunden waren - aber sie wurden wieder sichtbarer. Ich würde nicht sagen, es war falsch, dass Carolin Emcke dieses Buch veröffentlicht hat. Aber trotzdem zieht sich eben durch dieses Buch ein Blick auf den Hass als das kategorial Andere. Die Hassenden sind die Rechten, die Hassenden sind Leute, die bei Pegida mitlaufen. Der Hass ist kategorisch falsch, weil der Hass kein Vielleicht kennt und weil sich mit Hass nicht differenziert denken und handeln lässt. Dem würde ich vehement widersprechen. Ich war schon sehr jung politisch aktiv in unterschiedlichen migrantischen Selbstorganisationen - in sozialistischer linker Tradition - und da habe ich schon sehr früh gelernt, dass Menschen und Bewegungen sehr differenziert, mit sehr unterschiedlichen Gefühlen strategisch arbeiten können. Zu der Zärtlichkeit den Menschen gegenüber, dem Leben gegenüber, einer Zukunft, in der alle Menschen gleichberechtigt und unversehrt bewegen können: Da gehört manchmal strategisch der Hass auf die Ungerechtigkeit dazu. Das bedeutet nicht, dass man kein Vielleicht mehr kennt. Deswegen führe ich auch in meinem Buch den Begriff des 'Strategischen Hasses' ein. Dass es durchaus ein Hass geben kann, der selbstreflektiert ist und der das Wir des Hasses auch immer wieder reflektiert und zur Verhandlung stellt. Der eben auch sagt, dass der Hass kein Selbstzweck sein darf. Der Hass darf kein 'nur' sein - er braucht immer eine Gleichzeitigkeit von Zärtlichkeit. Aber mich wundert gerade in liberalen Diskursen, wo es eigentlich darum geht, die Mündigkeit und die Emanzipation des Individuums zu unterstreichen, dass am Ende ein sehr monolithisches Menschenbild herrscht, wo der Mensch vermeintlich nur das eine oder das andere kann, obwohl sehr vieles sehr gleichzeitig passiert.
Sie differenzieren zwischen dem 'Strategischen Hass' und dem 'Reaktionären Hass' auf der anderen Seite. Den 'Strategischen Hass' haben Sie gerade schon grob umrissen: Was zeichnet den reaktionären Hass aus?
Kurt: 'Reaktioner Hass' - das ist im Grund eine Anlehnung an eine Definition von Erich Fromm, den ich da aufgreife. Erich Fromm kam auch schon in meinem ersten Buch vor. Es ist immer eine kritische Auseinandersetzung mit den Theorien von Erich Fromm. Er beschreibt diesen 'Reaktionären Hass' als eine manchmal existenzielle Reaktion auf Ungerechtigkeiten, die ein Individuum oder die Gruppen und Kollektive erfahren. Das ist auch ein sehr wichtiger Aspekt. Mir geht es gar nicht darum, eine Wesensdefinition des Hasses zu liefern. Das kann ich gar nicht - und das will ich auch gar nicht - weil ich immer politische Gefühle in Kontexten in von Macht- und Herrschaftsverhältnissen betrachte und sie historisch verorten möchte. Mir geht es gar nicht darum zu sagen, der Hass ist 'A, B, C' und deswegen ist er 'D, E, F'. Ich habe versucht, in diesem Buch den Hass in seinen unterschiedlichen Spielformen zu betrachten. Da geht es um Widerstand. Es geht um Selbstverteidigung. Es geht um Rache - später auch um Fragen von Bestrafung und Gerechtigkeit. Ich würde sagen der 'Reaktionäre Hass' ist in der Selbstverteidigung und in der Rache zu verorten. Der 'Strategische Hass' ist da auch sehr stark angelehnt, aber geht einen Schritt weiter. Er stellt sich die Frage: Was ist noch nötig? Wo ist der Hass nötig und wo es ist er auch zu begraben.
Das Interview führte Sebastian Friedrich. Das ganze Gespräch mit Şeyda Kurt können Sie hier hören. Das Buch "Hass - Von der Macht eines widerständigen Gefühls" ist bei HarperCollins erschienen und kostet 18 Euro.