Science-Fiction-Autorin Theresa Hannig: "Wir brauchen Utopien!"
Vor 150 Jahren ist Jules Vernes Roman "In 80 Tagen um die Welt" erschienen. Schneller, höher, weiter - das war damals angesagt. Was sind unsere Zukunftsthemen heute? Ein Gespräch mit der Science-Fiction-Autorin Theresa Hannig.
Frau Hannig, ist Jules Verne für Sie eigentlich noch ein Vorbild?
Theresa Hannig: Nein, für mich persönlich nicht. Ich kenne Jules Verne, habe als Jugendliche ein bisschen was von ihm gelesen, habe zuletzt "20.000 Meilen unter dem Meer" noch mal als Hörbuch gehört. Das war sehr schön, aber das hat keinen Effekt auf meine Arbeit. Meine Vorbilder sind andere. Das liegt aber vielleicht daran, dass der Science-Fiction-Bereich, in dem ich mich bewege - eher gesellschaftsspezifische Science-Fiction -, etwas anderes ist als die Abenteuerromane von Jules Verne.
Wer sind denn Ihre Vorbilder?
Hannig: Meine Vorbilder sind ein bisschen nerdiger: Douglas Adams fand ich immer super, das war mein Zugang zur Science-Fiction. "1984" oder "Brave New World" - das sind eher die gesellschaftlichen Romane, an denen ich mich orientiert habe und die mich persönlich interessieren. Aber ich bin auch nicht das Paradebeispiel für die deutschsprachige Science-Fiction - es gibt eine ganze Menge anderer Autor*innen, die nicht so sehr das Thema Gesellschaft aufgreifen, sondern eher technisch oder abenteuermäßig orientiert sind. Vielleicht würden die das anders beantworten, vielleicht ist für die Jules Verne tatsächlich noch so eine Art Übervater.
Es gibt das Vorurteil, dass viel mehr Männer Science-Fiction lesen und auch schreiben. Sie leiten das Projekt #fantastischeFRAUEN, wo Sie untersuchen, wie hoch der Frauenanteil in deutschsprachiger Science-Fiction-Literatur ist. Was sind Ihre Ergebnisse?
Hannig: Sie haben Recht: Der überwiegende Teil der Science-Fiction-Literatur wird von Männern für Männer geschrieben und auch von Männern gelesen. Jedes Jahr werden einige Science-Fiction-Preise verliehen, und die haben nahezu immer die Männer gekriegt. Vor ein paar Jahren habe ich zum ersten Mal in meiner Twitter-Bubble mitgekriegt, dass eine Diskussion einsetzte, warum Frauen nie die Preise kriegten. Es wurde darüber diskutiert, warum Frauen keine Science-Fiction schreiben. Ich dachte mir: Wenn ich schon schreibe, dann müssten auch noch andere Frauen schreiben. Es war nicht klar, wie viele Frauen Science-Fiction schreiben, aber es war klar, dass ungefähr nur zwei bis zehn Prozent der Preise an Frauen vergeben werden. Ich dachte mir, dass es sicherlich mehr sind, und habe angefangen,. zu recherchieren. Ich habe in Datenbanken gesucht und bin auch fündig geworden: Um die 25 Prozent der Science-Fiction-Schreibenden sind Frauen. Das ist so ungefähr der Trend der letzten fünf Jahre.
Schreiben Frauen andere Science-Fiction?
Hannig: Thematisch vielleicht nicht. Gerade die Frauen schreiben oft sehr techniklastige Science-Fiction. Jacqueline Montemurri oder Kris Brynn sind zum Beispiel auch technikaffin, haben auch eine entsprechende Ausbildung. Es gibt aber auch eine ganze Menge anderer Autorinnen wie mich oder Aiki Mira zum Beispiel, die eher gesellschaftlich relevante Science-Fiction schreiben: Wie verändert die technologische Entwicklung unsere Gesellschaft? Das ist eher ein Bereich, der sich "Social Fiction" oder im Bezug auf den Klimawandel "Climate Fiction" nennt. Das ist oft der Zugang, den Frauen zur Science-Fiction haben.
Ein dritter Punkt ist, dass Frauen insgesamt anders schreiben können. Das heißt nicht, dass sie anders schreiben - aber natürlich ist die Perspektive einer Frau grundsätzlich anders als die eines Mannes. Es ist zwar möglich für einen Mann, sich in eine weibliche Protagonistin hineinzuversetzen, aber trotzdem gibt es Aspekte aus dem Erfahrungsschatz und aus der Geschichte der Frau, die andere Zugänge und Perspektiven ermöglichen, die für Männer durchaus interessant wären, sie kennenzulernen.
Wie lebendig ist die Science-Fiction-Szene heute?
Hannig: Die ist super lebendig. Wenn ich einen Programmhinweis machen darf: Wir haben einen Science-Fiction-Stammtisch nächsten Freitag, 19 Uhr, in der Otherland Buchhandlung in Berlin. Da treffen sich Aiki Mira, Nils Westerboer, Jens Lubbadeh und ich und wir reden über Science-Fiction. Das ist nur ein ein kleines Event, aber es gibt auch eine ganze Menge anderer Events auf der Leipziger Buchmesse. Ich würde sagen, wir sind schon sehr lebendig.
Sie haben in Ihrem Roman "Die Unvollkommenen" einen totalitären Überwachungsstaat erschaffen: Die Bundesrepublik Europa wird von einer Künstlichen Intelligenz regiert. Wie nah sind wir heute an dieser düsteren Science-Fiction?
Hannig: Gott sei Dank sind wir davon noch recht weit entfernt. Die Bundesrepublik Europa war ja zu Beginn als Utopie gedacht: Diejenigen, die es erschaffen, denken, das wäre die perfekte, optimierte Welt. Tatsächlich scheitert es daran, dass Menschen gar nicht optimiert werden sollten und auch nicht optimiert werden wollen. Davon sind wir in Europa mit unserem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte recht weit entfernt. Die Gerichte achten schon darauf, dass Politiker*innen, die zu immer mehr Überwachung und Kybernetik in unserer Gesellschaft drängen, abgeschmettert werden. Denn das Recht auf Privatsphäre steht einem Grundrecht gleich. Aber wenn wir uns Länder wie China anschauen, da ist die Nähe zu meinem Roman schon recht groß. Die haben ein Sozialpunktesystem, eine nahezu absolute Überwachung. In so einem System möchte ich nicht leben, denn meine Privatsphäre ist mir sehr wichtig.
Bei Jules Verne war Science-Fiction noch so etwas wie Zukunftsoptimismus, Hoffnung, der Glaube daran, Dinge noch schneller entdecken, erreichen zu können. Heute sind es eher Dystopien, dunkle, pessimistische Zukunftsvisionen. Woran liegt das?
Hannig: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, wir sind durch die zwei Weltkriege so desillusioniert, dass wir uns gar nicht mehr trauen, in Utopien zu denken. Denn jede Utopie steht immer im Verdacht, in Wirklichkeit ein totalitäres System zu sein. Deshalb glauben wir niemandem, der sagt, er oder sie habe die Lösung. Es ist viel einfacher zu sagen, dass alles schlimm wird. Es ist auch viel einfacher, eine Dystopie zu schreiben, denn da braucht man nur einen Faktor, den man ganz schlimm machen muss, und dann ist es spannend, dann gibt es Action und dann hat man ein spannendes Buch verkauft. Wir wollen ja gerne Skandale, Action und grässliche Sachen, die wir in einem Buch lesen, damit wir sie nicht in Wirklichkeit erleben müssen.
Aber wenn die Gegenwart auch schon so grässlich ist, will man da nicht auch mal wieder schöne Science-Fiction lesen?
Hannig: Das finde ich auch, deshalb habe ich auch eine Utopie geschrieben. Mein Bücherregal war voller negativer Zukunftsszenarien, und da dachte ich mir: Wenn es sonst keiner macht, dann mach ich es selber und habe mir diese Utopie herbeigeschrieben. Das war ein richtiger Kraftakt und es war sehr kompliziert, aber es hat mir sehr viel Freude bereitet, das zu schreiben. Ich höre von den Leser*innen, dass es ihnen Hoffnung gibt, das zu lesen, und das finde ich total toll. Ich hatte die Hoffnung, dass viele meiner Kolleginnen in ähnliches Fahrwasser geraten und auch Utopien schreiben, weil so eine negative "Climate Fiction" fürchterlich ist. Wir sehen das Schlimme auf uns zukommen, und irgendjemand muss das doch retten. Ich bin ein bisschen enttäuscht und hoffe, dass es vielleicht in den nächsten Jahren passiert.
Das ist ein regelrechter Aufruf, richtig?
Hannig: Ja, bitte, schreibt Utopien! Wir brauchen Utopien, weil wir positive Zukunftsentwürfe brauchen, um überhaupt positive Gedanken fassen zu können. Wenn ich mir dauernd erzähle, wie schlecht die Welt ist und wie schlimm alles wird, dann habe ich gar nicht die Chance, mir neue Gedanken zu machen. Deshalb braucht man viele Bücher, viele Geschichten, um viele neue Ideen zusammenzubringen - und viele neue Ideen ergeben wieder weitere neue Ideen. Also bitte, schreibt Utopien!
Oft ist Science-Fiction, würde man denken, eine Verschiebung von aktuellen Krisen in ein neues, glattes, technoides, fantastisches Setting. Sehen Sie das ähnlich, dass man in dieser Art von Literatur Gedankenexperimente wagen kann, die es sonst vielleicht nicht gäbe?
Hannig: Ja. Ich glaube auch, dass Science-Fiction total wichtig für die Gesellschaft ist. Oft wird gesagt, dass Science-Fiction-Autor*innen über die Zukunft schreiben oder die Zukunft voraussehen. Das ist natürlich Quatsch. Wir probieren Möglichkeitsräume aus. Wir schauen, welche technologisch-gesellschaftliche Entwicklung gerade aktuell ist. Wir schreiben über die Gegenwart, extrapolieren bestimmte Entwicklungen aber in die Zukunft und überlegen uns dann, was daraus werden könnte, was passieren würde, wenn das so weitergeht. Wer sich mit Science-Fiction beschäftigt, kriegt einen recht guten Überblick darüber, was wahrscheinlich in irgendeiner Form in Zukunft passieren wird, kann sich schon einmal Gedanken darüber machen und ist dementsprechend auf die Zukunft vorbereitet. Das ist auf jeden Fall nicht schlecht.
Das Interview führte Julia Westlake.