Der Schriftsteller Uwe Timm im Portrait © Isolde Ohlbaum
Der Schriftsteller Uwe Timm im Portrait © Isolde Ohlbaum
Der Schriftsteller Uwe Timm im Portrait © Isolde Ohlbaum
AUDIO: Die Stimme der deutschen Geschichte: Uwe Timm (54 Min)

Uwe Timm: "Als Schüler hatte ich Schreibschwierigkeiten"

Stand: 31.03.2025 07:08 Uhr

Der 85-jährige Uwe Timm gehört zu den erfolgreichsten Schriftstellern Deutschlands, dabei fiel ihm als Schüler das Schreiben alles andere als leicht. Bei NDR Kultur à la carte erzählt er von seiner Kindheit und über seinen Bruder, der sich freiwillig für die Waffen-SS meldete und im Krieg fiel.

von Annemarie Stoltenberg

Uwe Timm ist am 30. März 1940 in Hamburg geboren, erlebte die Bombennächte des Krieges und war aktiv in der 68er Bewegung. Bis heute schreibt er unermüdlich mit sprachlicher Eleganz Bücher und über das, was ihn bewegt. "Heißer Sommer", "Die Entdeckung der Currywurst" oder "Rennschwein Rudi Rüssel" - frühe Bücher von Uwe Timm, die zum großen Publikumserfolg wurden, vielfach in mehr als 20 Sprachen übersetzt, mit Preisen ausgezeichnet oder verfilmt. Derzeit tourt er mit seinem Roman "Der Mann auf dem Hochrad", ursprünglich 1984 erschienen, aber brandaktuell, durchs Land und liest.

In seinen Romanen, Novellen, Kinder- und Jugendbüchern oder Erzählungen spielt die deutsche Geschichte immer eine tragende Rolle. So hat sich Uwe Timm 2003 ganz persönlich mit seiner eigenen Familie auseinandergesetzt. In der Erzählung "Am Beispiel meines Bruders" sucht er in Tagebüchern, Briefen und Familiendokumenten nach Antworten auf Fragen, die viele Menschen seiner Generation stellen. NDR Kultur à la carte gratuliert dem genauen Beobachter und Zeitdiagnostiker, Uwe Timm, zum 85. Geburtstag.

Uwe Timm, Sie sind für mich neben Erich Kästner der einzige Schriftsteller, der für Kinder genauso gut schreibt wie für Erwachsene.

Uwe Timm: Das höre ich natürlich gerne und finde ich sehr schön. Was mich mit Kästner verbindet, ist, dass wir keine konstruierten Bücher schreiben, sondern sie aus dem Erzählen und aus den eigenen Wünschen herauskommen. Bei Kästner ist das ganz stark der Fall, mit dieser hochkomplizierten Beziehung zu der Mutter, die auch immer indirekt eine große Rolle spielt. Bei Kästner spürt man, was für Wünsche und Ängste noch immer in ihm als Schriftsteller stecken, die begleiten auch mich noch aus der Kindheit. Die Wünsche, die Vorstellungen und die Träume, die ich damals hatte, verbunden mit den Schwierigkeiten.

Ich hatte als Schüler Schreibschwierigkeiten. Ich war wohl ein Legastheniker, nicht stark, aber doch so, dass ich von den Lehrern Fünfen bekam. Ich habe das beantwortet, indem ich Geschichten für mich erzählte und diese Geschichten wie aus Trotz aufgeschrieben habe. Das waren Geschichten, die besonders von der Umwelt bestimmt waren. Beispielsweise habe ich damals schon angefangen mit 12 oder dreizehn Jahren einen Roman über die Flüchtlinge, die aus Hamburg 1813 fliehen mussten zu schreiben, beziehungsweise von den französischen Truppen, die vertrieben wurden. Diese Flüchtlinge aus Ostpreußen sah ich am Isebekkanal. Die Verbindung dieser armen Menschen, die in den Nissenhütten gegenüber der Schule an der Bismarckstraße lebten, und den Berichten in der Schule über die Hamburger, die von den Franzosen 1813 vertrieben wurden. Viele verhungerten und erfroren, weil es Winter war.

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Das hat dazu geführt, dass ich darüber versuchte, einen Roman zu schreiben. Irgendwann ist es dem Lehrer aufgefallen, er hat es gelesen und in den Papierkorb gesteckt. Aber das ist, glaube ich, der eigentliche Antrieb, dass das Schreiben aus einem Grund und auch der Mangelsituation eines Unglücks und einer Unzufriedenheit entsteht. Sonst würde man nicht schreiben. Das war für mich eine Gegenwelt zu der Schule und den schlechten Noten in Deutsch. Ich machte eine Lehre und habe erst später das Abitur nachgeholt und studiert. Aber die Kinderbücher tragen, glaube ich, diesen Urgrund mit sich. Diese Reise auf der Elbe ist eine solche Geschichte, die weit in meine Kindheit hineinreicht, wie zum Beispiel "Der Schatz auf Pagensand", wo ein Hamster auf einer Blechdose auf der Elbe gefahren ist. Das ist dann auch tatsächlich so ausgeformt, wie ich das mal in einem Segelboot ansatzweise erlebt habe.

Sie erzählen immer, woher ein Stoff gekommen ist und wie der mit Ihrem Leben zusammenhängt. Bei manchen Ihrer Bücher ist das auch ganz deutlich, völlig unverschleiert und nicht versteckt. Zum Beispiel "Alle meine Geister" oder "Am Beispiel meines Bruders", der Text, der Ihrem Bruder gewidmet ist. Wann hatten Sie die Kraft und den Mut, darüber zu schreiben?

Timm: Ich denke, schon in den ersten Büchern sind biografische Momente enthalten. Das Buch "Heißer Sommer" erschien vor über 50 Jahren und erzählt etwas von der Studentenbewegung, die Hauptfigur ist Ulrich Krause. Das bin ich, aber irgendwie auch wieder nicht. Es ist eine fiktive Person, die viele Erfahrungen und Erlebnisse in der Studentenbewegung mit mir teilt und die ich dadurch beschrieben habe. Aber die Figur ist dann doch fiktional. "Morenga" ist entstanden, weil bei uns zu Hause noch alte Schutztruppler vorbeikamen, die von der damaligen Zeit erzählten. Es ist ein Anlass gewesen, dieses Buch über das fürchterliche Geschehen in Südwestafrika, in der deutschen Kolonie, mit dem Völkermord an den Hereros und Namas zu schreiben. Danach gibt es einen Schnitt. Dann kommt noch "Karens Flucht", das ist wie ein Abschied an diese organisierte linke Zeit. Und dann kommt das Buch "Der Mann auf dem Hochrad", das ist geschrieben nach zwei Jahren, in denen ich in Rom war. Das war sehr wichtig. Plötzlich beschäftigte ich mich mit anderen Dingen, also auch mit Alltagsästhetik. Das führte dann aus diesen doch sehr politisch gerichteten Büchern raus und mehr in mich hinein.

Ich hatte in den zwei Jahren in Rom die Gelegenheit und die Muse über mich nachzudenken und die Welt zu beobachten. Diese wunderbare Welt, die Italiener, wie die lebten. Ich habe einen ethnologischen Blick entwickelt. Das führte dazu, dass ich auch richtig autobiografisch über meinen Bruder geschrieben habe, der bei der Waffen-SS war und sich freiwillig gemeldet hatte. Er ist mit 19 Jahren in der Ukraine gefallen, nachdem ihm beide Beine abgeschossen wurden. Das war eine fürchterliche Geschichte. Er hat ein Tagebuch hinterlassen und dieses Tagebuch habe ich immer mal wieder gelesen, bin aber immer wieder erschrocken und habe es dann wieder weggelegt. Da sind Sätze drin wie: "75 Meter, Ivan raucht Zigarette, ein Fressen für mein MG". Wie kommt ein junger Mensch dazu, diese Bereitschaft zu entwickeln, zu töten und sich töten zu lassen? Dieses Tagebuch ist eine Inventur des Schreckens. Ganz zum Schluss aber, und das ist das Erstaunliche, bricht er dieses Tagebuch ab und schreibt: "Über so fürchterliche Dinge zu schreiben, macht keinen Sinn." Ich sehe darin, dass er nicht die sprachliche Fähigkeit hatte, das früher zu reflektieren und das Schreckliche richtig aufzuschreiben. Er fällt dann in diese Sprachlosigkeit zurück. Dann stirbt er dort mit 19 Jahren. Dieser Schrecken ist der erste Ansatz gewesen, der das möglichst genau fasste, das das viele 100.000 Menschen geteilt haben und verstümmelt und getötet wurden.Das Buch "Am Beispiel meines Bruders" folgt sehr genau den Fakten und den Eintragungen, Briefen und dem Tagebuch.

Im Gegensatz etwa zu dem Buch "Alle meine Geister", da habe ich nicht recherchieren können, weil ich nicht reisen konnte. Da habe ich mich alleine auf meine Erinnerung und meine Träume verlassen. Ich habe sehr intensiv über Personen geträumt, die regelrecht wollten, dass ich über sie schreibe. Die hatte ich kaum in Erinnerung. Es war also wirklich ein Rückstieg in die Biografie. Das war auch für mich überraschend. "Alle meine Geister" haben mich begleitet, literarisch und auch als Personen, die immer noch im Kopf sind.

Das Gespräch führte Annemarie Stoltenberg. Einen Ausschnitt davon lesen Sie hier, das ganze Gespräch können Sie oben auf dieser Seite und in der ARD Audiothek hören.

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur à la carte | 31.03.2025 | 13:00 Uhr

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