Cover von "Alle meine Geister" von Uwe Timm © Kiepenheuer & Witsch

"Alle meine Geister": Uwe Timm erinnert sich an seine jungen Jahre

Stand: 15.09.2023 06:00 Uhr

Im Alter von 83 Jahren legt Uwe Timm eines seiner großartigsten Bücher vor. In leichtem, schwebenden Erzählton führt er einen magischen, behutsamen, intensiven Dialog mit seinem Leben.

von Katrin Krämer

"Erinnern ist ein merkwürdiges Vergessen", sagt Uwe Timm in diesem Buch, das ausdrücklich nicht "Autobiografie" genannt wird. Man könnte meinen, dass ihm dieser geistreiche Satz von einer Stimme eingeflüstert wurde, die während des Schreibens in seinem Kopf herumspukte. Und so ähnlich war es auch: "Das war wirklich ein sehr intensiver Prozess der Erinnerung", so Timm. "Ich habe auch wirklich intensiv geträumt, während ich schrieb, und habe das dann aufgeschrieben, wenn ich kurz aufwachte. Das ist der Prozess, wenn man sich zwei Jahre intensiv mit etwas beschäftigt - erinnerungsmäßig. Dann ist das ein ständiges Bergwerk, das man da schürft."

Und wie er schürft! "Alle meine Geister" ist spürbar Erinnerungsarbeit gewesen, dabei ist sein Erzählton leicht und schwebend. Uwe Timm lässt die Leser außerdem teilhaben an seinem behutsamen Vortasten in seinem romantauglichen Leben. Zum Beispiel, indem er sich selbst immer wieder befragt: Könnte es so gewesen sein? Oder war es doch anders?

Wenn Lektüre-Erlebnisse zu Lebens-Ereignissen werden

Timm wurde 1940 in Hamburg geboren und als Zweijähriger mit der Mutter evakuiert. Nach Kriegsende ging es zurück in die Trümmerstadt. Er erinnert sich an:

Schuttberge. Geruch nach feuchtem Mörtel. Wohnen und schlafen in einem zugigen Kellerzimmer mit einer Eislandschaft an der Wand. Leseprobe

Aber da waren auch Bücher, aus denen die Eltern vorlasen:

Geschichten aus 1001 Nacht. Der magnetische Fels, an dem die Schiffe zerschellen. Die Palastpforte, durch die der Sultan als Bettler geht. Leseprobe

Die Literatur wurde zur überlebenswichtigen Gegenwelt - auch später, als er in die Lehre ging. Kürschner sollte der 15-Jährige lernen, um eines Tages von seinem Vater das Pelzgeschäft, "Pelze Timm", zu übernehmen. Wie Lektüre-Erlebnisse zu Lebens-Ereignissen werden können - hier erlebt man es mit. "Und die entscheidenden Bücher kamen von ganz entscheidenden Menschen", erzählt Timm. "Zum Beispiel 'Der Fänger im Roggen', für mich ein ganz wichtiges Buch, kam von einem ganz jungen Kürschner, der aufmüpfig war und der Firma aufgekündigt hat. Ich hatte Glück: In einem Sortierzimmer konnte ich in Ruhe lesen. Das war ein paradiesischer Zustand."

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Auch mündliches Erzählen spielte große Rolle

Aber auch das mündliche Erzählen spielte in jenen jungen Jahren eine große Rolle. Kriegsüberlebende, Paradiesvögel und die für den Heranwachsenden attraktiven Näherinnen bildeten einen eingeschworenen Kreis; sie schnitten nicht einfach nur schweigend Felle zu, um dann die extravaganten Pelze daraus zu fertigen:

Das Erzählen begleitete die eingeübten Arbeitsgänge, die keine rechnende Überlegung erforderten, aber doch höchst genau in der Handhabe sein mussten, wie das feine In-Streifen-Schneiden der Felle. Leseprobe

Uwe Timm erzeugt eine fast magische Atmosphäre

In "Alle meine Geister" beschwört Uwe Timm auch die Erinnerungen an das fast vergessene Kürschner-Handwerk herauf. Er hat es im Hamburger "Pelz- und Modehaus Levermann" von der Pike auf gelernt: "Es ist eine sehr komplizierte, sehr schöne Arbeit, die aber an ihre Grenzen kam, als die Nerz- und Persianerzucht aufkam. Vorher liefen die Tiere hier rum und hatten die Chance, zu entkommen. Aber dann war es tatsächlich die Hölle der Tiere in den Käfigen, und da begann auch zu Recht der Protest. Dann war das auch das Ende der Kürschnerei, auch für mich."

Ob Kürschnerei, Streifzüge auf der Reeperbahn oder erste erotische Wallungen: Timm erzeugt eine fast magische Atmosphäre, indem er mit seinen Geistern in den Dialog tritt. Aber mehr noch ist es ein behutsamer und zugleich intensiver Dialog mit seinem Leben. Bis zu dem Punkt, an dem er aufbricht in eine neue Zukunft, Schriftsteller wird. "Alle meine Geister": ein mitreißender "stream of remembrances".

Alle meine Geister

von Uwe Timm
Seitenzahl:
288 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Kiepenheuer & Witsch
Bestellnummer:
978-3-462-00549-3
Preis:
25 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 15.09.2023 | 12:40 Uhr

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