Grausame Hamburger Weihnachten 1813
Kurz vor und an Weihnachten 1813 spielen sich in Hamburg erschütternde Szenen ab: Tausende Menschen werden von den französischen Besatzern aus der Stadt getrieben - viele von ihnen in den Tod.
"Solch ein Weihnachten, wie Hamburg damals sah, hat keiner von euch je erlebt, und wird, so Gott will, kein Mensch in Hamburg je wieder erleben." So fasst Marianne Prell, die Tochter eines Hamburger Kaufmanns, ihre Erinnerungen an die Weihnachtstage 1813 in einem Tagebuch zusammen. Sie ist dabei, als die französischen Besatzer ihre Herrschaft über die Hansestadt mit drastischen Maßnahmen gegen die russischen Belagerer verteidigen.
30.000 "unnütze Esser" sollen raus
Um sich für die heranrückenden alliierten Soldaten zu wappnen, wollen Napoleons Truppen bis zum Neujahrstag 30.000 "unnütze Esser" aus der Stadt bringen. Hamburg soll weiter zur Festung ausgebaut, und es soll alles zerstört werden, was Schüsse auf die Angreifer verhindern könnte.
Vororte wie Hamm werden niedergebrannt und Tausende Einwohner auf dem Hamburger Berg (heute St. Pauli) angewiesen, ihre Häuser zu räumen - "nach den schrecklichen Gesetzen des Krieges", wie ein damaliger französischer Kommandant sagt.
Die Kirchen als Pferdeställe
Zusammenkünfte von mehr als sechs Personen sind verboten, für Gottesdienste und Aufführungen benötigt man eine schriftliche Genehmigung der französischen Besatzer. Alle Kirchen außer St. Michaelis sind in Waffenlager und Pferdeställe umgewandelt. Ein Waisenhaus wird zum Hospital umfunktioniert, die Waisenkinder werden nach Eppendorf geschickt.
Wenige Tage vor Weihnachten erlassen die Franzosen ein Ultimatum: Alle Einwohner, die nicht genügend Lebensmittel für sechs Monate haben, müssen die Stadt spätestens am 20. und 21. Dezember verlassen. Auch alle fremden Handwerksgesellen, Lehrlinge und Bettler sollen raus. Für ihren Auszug sind die ansonsten geschlossenen Stadttore zwischen 10 und 14 Uhr geöffnet. Wer in die Stadt zurückkomme, werde als Spion angesehen und erschossen.
Zu arm für Vorräte
Die Besatzer verlangen schriftlich Auskunft darüber, wie viele Lebensmittel jeder Einwohner besitzt. Doch für viele Hamburger ist das Anlegen von Vorräten unmöglich, weil sie so arm sind, dass sie kaum wissen, was sie am nächsten Tag essen sollen. So schreibt ein Milchhändler: "In jetziger Zeit verdiene ich nichts, kann auch keinen Proviant anschaffen. Ich danke Gott, wenn ich mit meiner Frau und drei Kindern von einem Tag zum andern satt werde."
Am Morgen des 24. Dezember liest man in der Zeitung "Mercur" von der Verlängerung des Ultimatums bis zum Abend: Wer nicht genügend Vorräte hat und nicht von selbst geht, dem drohen Stockschläge. Soldaten würden die Säumigen hinaustreiben und alle Möbel beschlagnahmen.
In der Heiligen Nacht aus den Häusern geholt
Im Laufe des Tages machen die Franzosen Ernst: Sechs angesehene Hamburger werden abkommandiert, um zusammen mit französischen Soldaten Haus für Haus zu besuchen, um alle ausfindig zu machen, die nicht genügend Proviant haben. Die Kommandos starten am Abend. Die in der Weihnachtsnacht aus den Häusern geführten Armen werden in Scharen durch die Straßen getrieben, um sie in der eiskalten St.-Petri-Kirche zu sammeln, die wegen ihrer Nutzung als Pferdestall keine Stühle mehr hat. Von dort aus werden die Menschen zu den Stadttoren hinausgeführt und sich selbst überlassen.
Ein Anwohner am Speersort schildert, was er am Abend aus seinem Fenster sieht: "Man transportirt nach Petrikirche Leute, die man aus'm Schlaf gestöhrt, ihren Proviant untersucht und nicht hinlänglich befunden." Er erkennt alte Leute, aber auch Kinder, die in der kalten Nacht zum Teil keine Zeit mehr hatten, sich richtig anzuziehen. Jammernd ziehen sie zur Kirche. "Ach, ich hab mit gejammert, geflucht, gebetet, getrauert über Menschenelend. So merkwürdig war mir noch keine Nacht."
"Gar nicht an Weihnachten gedacht"
Warum so viel Grausamkeit ausgerechnet in der Weihnachtsnacht? Auch viele französische Offiziere sind empört über die Anordnung des Marschalls Louis-Nicolas Davout. Die Zeitzeugin Marianne Prell liefert in ihrem Tagebuch einen Erklärungsversuch: "Ob die Franzosen dies Austreiben absichtlich aus Grausamkeit am Weihnachtsabend vornahmen, oder ob es nur durch eine traurige Verkettung von Umständen so gekommen, ist wohl schwer zu entscheiden." Sie nehme an, dass die Franzosen gar nicht an Weihnachten gedacht hätten, sondern in Panik vor den russischen Truppen handelten, die den Stadtgrenzen gefährlich nahe waren.
Eine andere Zeitzeugin, die Professoren-Gattin Johanne Radspiller, erfährt am Morgen des ersten Weihnachtstages, dass insgesamt 800 Familien in der Nacht aus der Stadt getrieben wurden. Auf dem Weg zu ihrer Schwester begegnet sie vielen Menschen, die ihr Hab und Gut zusammenpacken, um nun freiwillig zu gehen. Weil sie selbst nicht genügend Proviant hat, überkommt sie die Panik: "Den Jammer überlebe ich nicht, in der Nacht mit meinen Würmern hinausgestoßen zu werden, die Angst um sie würde mich tödten!"
"Anblick drang bis ins Innerste der Seele"
Auch am zweiten Weihnachtstag reißt der Strom der flüchtenden Hamburger nicht ab. Die Pastorentochter Henriette Grauthoff beschreibt, was sich an den Toren vormittags abspielt: "Manche Familien zogen mit fünf und sechs kleinen Kindern bei uns vorüber. Mann und Frau trugen jeder eins auf dem Arme. Dieser Anblick drang mir bis ins Innerste der Seele."
Ein französischer Kommandant hält die Zahlen der Vertriebenen in einem Bericht fest: Am Heiligabend zählt er 5.106 Menschen, am ersten Weihnachtstag sind es 4.637, am zweiten Weihnachtstag 5.617, die die Stadt verlassen haben. Viele schlagen den Weg ins benachbarte Altona ein, das zum mit Napoleon verbündeten Dänemark gehört. Allein auf dem Weg dorthin sterben weit mehr als 1.000 Menschen an Kälte und Unterernährung. Sie werden in Massengräbern begraben.
Viele flüchten nach Norden
Wer nicht nach Altona flüchtet, zieht durch die Tore Millerntor, Dammtor und St. Georg nach Norden. Viele machen sich auf nach Lübeck. Doch auch hier kommen viele Hungernde in der Kälte nicht weit. Ein Grab in Barmbek erinnert bis heute an 50 Vertriebene, die die Stadt aus St. Georg heraus verlassen hatten.
Auch nach den Weihnachtstagen geht die Vertreibung weiter. Bis Ende März 1814 verlassen mehr als 30.000 Menschen Hamburg - knapp ein Viertel der damaligen Bevölkerung.