Die Todesmärsche 1944/45: Ein Zeitzeuge berichtet
Es ist ein weitgehend unbekanntes Kapitel des Massenmordes der Nationalsozialisten: die Todesmärsche der KZ-Häftlinge. Das Kulturjournal hat 2011 mit Albert van Dijk, einem Überlebenden, gesprochen.
"Ich wünsche allen Menschen, dass Ihnen nicht passiert, was mir und meinen Mithäftlingen und meinen Mitmenschen passiert ist." Albert van Dijk
Drei Jahre Konzentrationslager hatte Albert van Dijk schon hinter sich. Dann trieben die Nazis den Niederländer 300 Kilometer durch Deutschland. Vom KZ Mittelbau-Dora durch den Harz bis nach Berlin. Albert van Dijk, damals gerade 20 Jahre alt, war einer der letzten Überlebenden jener Transporte, die die Häftlinge selbst "Todesmärsche" nannten, als das Kulturjournal 2011* mit ihm sprach. Van Dijk starb am 9. Oktober 2021, er wurde 97 Jahre alt.
Kein Häftling sollte lebend in die Hände des Feindes fallen
"Die Häftlinge sind vor Erschöpfung zusammengebrochen und sind dann von den SS-Leuten, von den Wehrmachtsleuten und von den Zivilisten erschossen worden, sind zertrampelt worden, sind vor unseren Augen totgeschlagen worden." Albert van Dijk
Es waren die letzten Kriegswochen und -monate. Die Alliierten rückten immer näher. Von Himmler sollte es einen Befehl geben: Kein Häftling darf lebend in die Hände des Feindes fallen. Fast panisch räumten die Nazis die Lager. Geschätzte 758.000 völlig entkräftete Menschen mussten die Todesmärsche antreten. Ziel oft unbekannt. Über ihr Schicksal bestimmten meist kleine SS-Leute.
"Diese letzte Phase macht sehr deutlich, dass es der Befehle nicht bedarf", sagte die Historikerin Carmen Lange 2011. "Die SS-Leute haben allmählich selbst Angst, je näher die Fronten zusammenkommen und je kleiner das Stück ist, das von den Nazis noch gehalten wird. In dieser Zuspitzung werden die Verbrechen schlimmer. Zur Not - bevor einem das zum Nachteil gerät - erschießt man die Häftlinge eben auch ohne Befehl."
Die Todesmärsche führten durch ganz Norddeutschland
Der Belower Wald am Südrand von Mecklenburg-Vorpommern: Die Gedenkstätte Todesmarsch erinnert an die Gräuel, die hier 16.000 Häftlinge auf ihrem Marsch vom KZ Sachsenhausen in Richtung Norden erleiden mussten. An den Bäumen fehlt großflächig Rinde - damals heruntergekratzt von Häftlingen, um wenigstens etwas zu essen zu haben. Hunger war allgegenwärtig. Auf allen Todesmärschen.
Viele Routen wurden erst Jahrzehnte später rekonstruiert. Doch klar ist: Die Todesmärsche führten durch ganz Norddeutschland. Durch Wälder, durch Städte und Dörfer. Und viele Deutsche haben das mitbekommen: Mit den Todesmärschen gingen die Konzentrationslager ganz unmittelbar an den Wohnzimmern vorbei. Und die Bürger sahen zu. Albert van Dijk erlebte eine feindselige Bevölkerung, die angelaufen kam, um SS-Männern beim Morden zuzusehen.
"Dann hat er den zusammengebrochenen Körper zerschossen mit seinen Maschinenpistolen. Und dann haben die Bürger gesagt: Warum macht Ihr Euch so viel Mühe, mit diesen Leuten noch weiterzuziehen, legt sie doch alle um. [...] Der Häftling hat gefragt: Bitte gnädige Frau, bitte, haben Sie etwas zu trinken für mich? Und dann hat sich das Weib - ich sag das Weib - auf den Häftling gestürzt, hat ihn ins Gesicht gekratzt, ihn angespuckt und gesagt: Da hast Du Wasser, Du Dreckiger." So erscheint sogar die Flucht sinnlos.
Viele Deutsche schauten zu, doch kaum jemand half
"Wir fraßen Gräser wie die Tiere. Eine Kastanie vom vorherigen Herbst, solche Sachen. Es gab einfach nichts. Beim ganzen Todesmarsch hat es nichts gegeben." Albert van Dijk
Im Nachhinein erzählten viele Deutsche, sie hätten den KZ-Häftlingen Brot oder Wasser gegeben - Geschichtsklitterung. Hilfe war die Ausnahme. "Ich persönlich glaube, dass die Mehrheit gar nicht reagiert hat, sondern hinter der Gardine gestanden und sich das angeschaut hat", so Lange. "Und das in einer Mischung aus der Naziideologie, die in den Köpfen war, und sagte, dass dies alles Verbrecher und Untermenschen sind. In einer Mischung dieser Ideologie dann auch mit der Angst vor diesem Fremden."
Wie weit das führen konnte, zeigt das Massaker von Gardelegen in Sachsen-Anhalt. Zivilisten trieben mit der SS gut 1.000 Häftlinge in eine Scheune und zündeten sie an. Die Menschen verbrannten bei lebendigem Leib. Nur 25 überlebten.
Todesmärsche - ein verdrängtes Kapitel des Nationalsozialismus
"Wenn ich die Gelegenheit bekomme, wenn ich die Chance habe zu fliehen, würde ich das sicher tun. Unterwegs habe ich mich von dem Gedanken verabschiedet. Aus Angst vor den Deutschen, aus Angst vor der Bevölkerung." Albert van Dijk
Auch Albert van Dijk wäre dort beinahe verendet. Nur durch Zufall geht sein Transport an Gardelegen vorbei. Nach 18 Tagen traut er sich trotz seiner Angst vor den Deutschen mit der Hilfe einer russischen Zwangsarbeiterin zu fliehen. Und van Dijk hat Glück. Er überlebt. "Mein Transport war groß, es waren 1.000 Menschen. Und wir sind zu fünfzigst übriggeblieben, als wir nach Berlin kamen. 950 waren unterwegs krepiert. Durch Hunger, Erschöpfung und Erschießung waren sie ums Leben gekommen. Aber ich lebe immer noch. Ich hab's durchgehalten", berichtete er dem NDR 2011.
Viele haben das Thema Todesmarsch heute verdrängt. Vor allem kleine historische Vereine setzen sich in ganz Norddeutschland, wie im Harz, dafür ein, an dieses letzte und wenig bekannte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords zu erinnern. Es zeigt: Viele Deutsche, die angeblich nichts gewusst haben wollen, waren Mittäter des Holocaust.
* Die Urfassung dieses Beitrags wurde bereits 2011 veröffentlicht, an einigen Stellen wurde er aktualisiert.
