Ehrenfriedhof am Lüneburger Stadtrand. © NDR Foto: Lars Gröning

Massaker an KZ-Häftlingen zum Kriegsende in Lüneburg

Stand: 11.04.2025 05:00 Uhr

Nach einem Bombenabwurf auf einen Zug mit KZ-Häftlingen in Lüneburg fliehen die Überlebenden. 80 von ihnen werden am 11. April 1945 brutal getötet. Nur ein Angeklagter wird 1946 schuldig gesprochen.

von Lars Gröning

Wer trägt wirklich die Schuld an dem Massenmord an 80 KZ-Häftlingen am 11. April 1945 auf einem Feld in der Nähe des Lüneburger Güterbahnhofs? Seitdem scheint diese Frage zumindest juristisch geklärt zu sein: Der SS-Mann Gustav Jepsen, der damalige Verantwortliche für den Häftlingstransport, zu dem die Ermordeten gehörten, wird dafür 1946 in Lüneburg in einem Kriegsverbrecherprozess unter britischer Leitung schuldig gesprochen.

Von dem aufwendigen Lüneburger Verfahren gibt es zahlreiche Dokumente. Allein das Prozess-Protokoll ist 300 Seiten stark. Doch in den Unterlagen von früher verbergen sich offenbar auch einige Informationen, die nicht in die Geschichtsschreibung mit eingegangen sind. Das jedenfalls ist die Meinung Dörte von Westernhagen. Die Juristin aus Lüneburg hat den Fall von damals vor einiger Zeit noch einmal eingehend untersucht, unter anderem mit Hilfe von Dokumenten aus dem Londoner War Office. Sie ist davon überzeugt, dass nicht allein Gustav Jepsen für das grauenvolle Töten hätte zur Rechenschaft gezogen werden müssen.

Häftlingstransport in Viehwaggons aus dem Neuengamme-Außenlager

Der 11. April 1945 markiert das brutale Ende eines Häftlingstransports aus Wilhelmshaven, dem dortigen Konzentrationslager "Alter Banter Weg". Er startet am 3. April 1945 und besteht aus einem Zug mit vier Viehwaggons. Darin eingepfercht stehen dicht an dicht rund 400 Insassen des KZ, eines Außenlagers des KZ Neuengamme. Bewacht werden die Häftlinge von einem guten Dutzend Marinesoldaten unter der Befehlsgewalt von SS-Mann Gustav Jepsen. Die meisten der Häftlinge sind Franzosen, aber auch Widerstandskämpfer aus Belgien, Holland und Juden aus Ungarn sind unter ihnen. Sie sollen nach Neuengamme verlegt werden. Auf der Zugfahrt herrschen unmenschliche Zustände. Es gibt kein Wasser, kein Brot - und das tagelang. Nach mehreren Stopps werden die Waggons an einen langen Versorgungszug gehängt, der der Wehrmacht Benzin, Lebensmittel und andere Güter liefern soll. Den Häftlingen im Zug kommt nichts davon zugute.

Nach Bombardement: 80 geflüchtete KZ-Häftlinge ermordet

Die Gedenkstätte für 256 KZ-Häftlinge im Stadtforst "Tiergarten" bei Lüneburg besucht am 06.04.2000 Jochen Fischer von der Geschichtswerkstatt Lüneburg e.V.. Die Gedenkstätte erinnert an KZ-Häftlinge, überwiegend Franzosen und Belgier, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem KZ Hamburg-Neuengamme evakuiert wurden. Sie fuhren eingepfercht in Viehwaggons nach Lüneburg, wo sie mehrere Tage in fünf Waggons vegetierten, ehe sie den vier Angriffswellen der US-Kampfflugzeuge auf dem Lüneburger Bahnhof zu Opfer fielen. © picture-alliance / dpa Foto: Hans-Jürgen Wege
An die umgekommenen KZ-Häftlinge erinnert in Lüneburg ein Gedenkstein.

Am Morgen des 7. April erreicht dieser Zug Lüneburg. Zig Männer sind zu diesem Zeitpunkt bereits tot, gestorben an Hunger und Erschöpfung. Nur wenige Stunden später sterben erneut Dutzende Häftlinge in den Waggons, als amerikanische Bomber den Güterbahnhof angreifen und dabei auch den Häftlingstransport treffen. Einige der Überlebenden können aus den zerstörten Waggons fliehen und versuchen, sich unter anderem in der Stadt zu verstecken. Doch fast alle werden wieder gefasst und mit den anderen Überlebenden auf einem Feld am Güterbahnhof zusammengetrieben. Rund 140 der Männer, so entscheidet SS-Mann Gustav Jepsen, werden am 9. und 10. April per Lastwagen in das KZ Bergen-Belsen gebracht.

80 der Häftlinge allerdings bleiben in Lüneburg. Am darauffolgenden Tag werden sie von SS-Mann Jepsen und den Marinesoldaten grausam getötet. Die meisten per Genickschuss, wie Lüneburger Zeugen im Gerichtsprozess später berichten, sagte von Westernhagen nach Sichtung der Protokolle. Andere der KZ-Häftlinge wurden einfach erschlagen. Das hätten spätere Exhumierungen gezeigt.

Kriegsverbrecherprozess: Nur SS-Mann Jepsen verurteilt

"Das war nicht allein das Ding von Jepsen", ist sich von Westernhagen sicher. "Alle wussten Bescheid. Das war ein Deal zwischen dem damaligen Lüneburger Bürgermeister Johannes Hauschild, dem Gestapo-Chef Friedrich-Joachim Freitag, dem Chef der Schutzpolizei Otto Müller und den Bewachern der Häftlinge", sagte sie dem NDR vor einigen Jahren. Diese Rückschlüsse würden sich laut von Westernhagen ziehen lassen, wenn man neben dem Gerichtsurteil auch die Protokolle von über 30 Zeugenvernehmungen vor dem Prozessauftakt genau in Augenschein nimmt. Diese Protokolle hat die Autorin vom Londoner War Office zur Verfügung gestellt bekommen. Demnach habe unter anderem die Gestapo Waffen für das Massaker zur Verfügung gestellt. Und die Polizei habe gewartet, bis die Täter Lüneburg in aller Ruhe wieder per Zug wieder verlassen hatten.

Im Kriegsverbrecherprozess 1946 allerdings wurde nur Gustav Jepsen verurteilt. Ein Erschießungsbefehl war von Westernhagen zufolge lediglich mündlich überbracht worden. Zweck dieser Vorkehrung sei es gewesen, Jepsen nichts Schriftliches über den rechtswidrigen, verbrecherischen Befehl in die Hand zu geben, worauf sich dieser später hätte berufen können.

Obwohl ebenfalls angeklagt, wurden der Gestapo-Chef Freitag und der Schutzpolizei-Chef Müller freigesprochen. Müller wurde laut Dörte von Westernhagen freigesprochen, obwohl unterlassene Hilfeleistung als Straftatbestand im britischen Recht anerkannt war. Die Richter glaubten Müllers Lügen und Ausflüchten, er hätte zur Rettung der Häftlinge nichts tun können.

Russische Zwangsarbeiter verscharren die Leichen

Eine Gedenkstätte für die Opfer befindet sich in einem Waldstück am Stadtrand von Lüneburg. Dort, wo alle Toten des Transportes und der anschließenden Hinrichtung am 11. und 12. April 1945 in einem Massengrab verscharrt wurden. 244 Leichen sollen es gewesen sein. Die Beseitigung der Toten mussten russische Zwangsarbeiter übernehmen. Die Organisation der Aktion und den Transport der Leichen vom Exekutionsfeld in den Wald übernahmen laut Recherchen der Lüneburger Geschichtswerkstatt die Polizei und die Stadt.

Strafaktion: NSDAP-Mitglieder müssen Leichen umbetten

Die Verantwortlichen sollen gehofft haben, dass die britischen Truppen, die kurz danach die Stadt erreichten, die Opfer nicht finden würden, sagte von Westernhagen. Doch zumindest dieser Plan ging nicht auf. Ein halbes Jahr nach der Tat mussten Lüneburger Mitglieder der NSDAP in einer Strafaktion der britischen Armee die Leichen wieder ausgraben und in Särge betten, um sie an gleicher Stelle in Würde zu beerdigen. Ein Ehrenfriedhof wurde eingerichtet.

Lüneburger Gedenkstätte im Tiergarten: Ehrenfriedhof rekonstruiert

Mit den Jahrzehnten allerdings geriet der Friedhof immer mehr in Vergessenheit. Die sechs langen Grabreihen wurden bereits 1956 eingeebnet und Rhododendron darauf gepflanzt, der dort fast 60 Jahre lang wuchs. Nach mehreren Anläufen gelang es der Lüneburger Geschichtswerkstatt und Opferverbänden, die Stadtvertreter von einer Rekonstruktion des Ehrenfriedhofs zu überzeugen. Dies geschah dann Stück für Stück. Von ehemals 256 KZ-Häftlingen ruhen an der Gedenkstätte im Tiergarten Lüneburg heute noch 156 der damaligen Opfer.

Am 23. April 2023 wurde der Ort unter dem Titel "Ehrenfriedhof - Opfer der KZ-Häftlingstransporte 1945 im Tiergarten" feierlich neu eingeweiht. Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch sagte in ihrer Rede: "Es ist unser aller Aufgabe, diese Orte mit Leben zu füllen und uns immer wieder gemeinsam einzusetzen gegen das Vergessen." 

Die Urfassung dieses Beitrags wurde bereits 2015 veröffentlicht.

Weitere Informationen
Ein Güterwaggon steht als Mahnmal für NS-Kriegsopfer nahe des Lüneburger Museums. © NDR Foto: Lars Gröning

Ein Eisenbahnwaggon, der mahnen soll

Vor dem Museum Lüneburg erinnert ein historischer Waggon an 80 KZ-Häftlinge, die kurz vor Kriegsende erschossen worden waren. Kurz zuvor hatten sie einen Luftangriff überlebt. (22.03.2015) mehr

Drei Holzkreuze sind Teil des Mahnmahls an die Celler Hetzjagd auf KZ Häftlinge. © NDR Foto: Uwe Day

April 1945: "Hasenjagd" auf KZ-Häftlinge in Celle

In Celle wird am 8. April 1945 ein Zug mit Häftlingen von Bomben getroffen. SS-Leute und Bürger machen Jagd auf die Fliehenden. mehr

Ausschnitt der Europa-Karte vom 1. Mai 1945 aus dem "Atlas of the World Battle Fronts in Semimonthly Phases" des United States War Department, 1945, der die Gebietslage in zweiwöchigen Abständen dokumentiert. © This image is a work of a U.S. Army soldier or employee, taken or made as part of that person's official duties. As a work of the U.S. federal government, the image is in the public domain. Foto: United States War Department, General Staff 1945

Chronik des Kriegsendes im Norden

Im Frühjahr 1945 ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Wie verliefen die letzten Kriegsmonate? Welche überregionalen Ereignisse waren relevant? mehr

Wehrmachtssoldaten ergeben sich 1945 und halten weiße Tücher hoch. © picture alliance/akg-images Foto: akg-images

Dossier: Wie der Zweite Weltkrieg im Norden endete

Am 8. Mai 1945 kapituliert die deutsche Wehrmacht. Viele Städte und Lager sind von den Alliierten da bereits befreit worden. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Niedersachsen | Regional Lüneburg | 23.03.2015 | 17:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

NS-Zeit

Zweiter Weltkrieg

Mehr Geschichte

Britischer Soldat spricht mit einem Insassen nach der Befreiung der KZ Bergen-Belsen. (Bild: DPA) © dpa - Report Foto: epa PA Beth Shalom

KZ Bergen-Belsen: Briten finden vor 80 Jahren pures Grauen vor

Das Leid der Häftlinge im KZ Bergen-Belsen war unvorstellbar. Am 15. April 1945 befreiten britische Truppen das Lager. mehr

Norddeutsche Geschichte

Kleine Spielzeughäuser aus Kunststoff stehen auf einem Abgabenbescheid für die Entrichtung der Grundsteuer. In die zähen Verhandlungen von Bund und Ländern über eine Reform der Grundsteuer hat Schleswig-Holstein einen neuen Kompromissvorschlag eingebracht. © picture alliance/dpa | Jens Büttner Foto: picture alliance/dpa | Jens Büttner

Umfrage: Reform der Grundsteuer - gerecht oder ungerecht?