Massaker an KZ-Häftlingen zum Kriegsende in Lüneburg
Nach einem Bombenabwurf auf einen Zug mit KZ-Häftlingen in Lüneburg fliehen die Überlebenden. 80 von ihnen werden am 11. April 1945 brutal getötet. Nur ein Angeklagter wird 1946 schuldig gesprochen.
Wer trägt wirklich die Schuld an dem Massenmord an 80 KZ-Häftlingen am 11. April 1945 auf einem Feld in der Nähe des Lüneburger Güterbahnhofs? Seitdem scheint diese Frage zumindest juristisch geklärt zu sein: Der SS-Mann Gustav Jepsen, der damalige Verantwortliche für den Häftlingstransport, zu dem die Ermordeten gehörten, wird dafür 1946 in Lüneburg in einem Kriegsverbrecherprozess unter britischer Leitung schuldig gesprochen.
Von dem aufwendigen Lüneburger Verfahren gibt es zahlreiche Dokumente. Allein das Prozess-Protokoll ist 300 Seiten stark. Doch in den Unterlagen von früher verbergen sich offenbar auch einige Informationen, die nicht in die Geschichtsschreibung mit eingegangen sind. Das jedenfalls ist die Meinung Dörte von Westernhagen. Die Juristin aus Lüneburg hat den Fall von damals vor einiger Zeit noch einmal eingehend untersucht, unter anderem mit Hilfe von Dokumenten aus dem Londoner War Office. Sie ist davon überzeugt, dass nicht allein Gustav Jepsen für das grauenvolle Töten hätte zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
Häftlingstransport in Viehwaggons aus dem Neuengamme-Außenlager
Der 11. April 1945 markiert das brutale Ende eines Häftlingstransports aus Wilhelmshaven, dem dortigen Konzentrationslager "Alter Banter Weg". Er startet am 3. April 1945 und besteht aus einem Zug mit vier Viehwaggons. Darin eingepfercht stehen dicht an dicht rund 400 Insassen des KZ, eines Außenlagers des KZ Neuengamme. Bewacht werden die Häftlinge von einem guten Dutzend Marinesoldaten unter der Befehlsgewalt von SS-Mann Gustav Jepsen. Die meisten der Häftlinge sind Franzosen, aber auch Widerstandskämpfer aus Belgien, Holland und Juden aus Ungarn sind unter ihnen. Sie sollen nach Neuengamme verlegt werden. Auf der Zugfahrt herrschen unmenschliche Zustände. Es gibt kein Wasser, kein Brot - und das tagelang. Nach mehreren Stopps werden die Waggons an einen langen Versorgungszug gehängt, der der Wehrmacht Benzin, Lebensmittel und andere Güter liefern soll. Den Häftlingen im Zug kommt nichts davon zugute.
Nach Bombardement: 80 geflüchtete KZ-Häftlinge ermordet
Am Morgen des 7. April erreicht dieser Zug Lüneburg. Zig Männer sind zu diesem Zeitpunkt bereits tot, gestorben an Hunger und Erschöpfung. Nur wenige Stunden später sterben erneut Dutzende Häftlinge in den Waggons, als amerikanische Bomber den Güterbahnhof angreifen und dabei auch den Häftlingstransport treffen. Einige der Überlebenden können aus den zerstörten Waggons fliehen und versuchen, sich unter anderem in der Stadt zu verstecken. Doch fast alle werden wieder gefasst und mit den anderen Überlebenden auf einem Feld am Güterbahnhof zusammengetrieben. Rund 140 der Männer, so entscheidet SS-Mann Gustav Jepsen, werden am 9. und 10. April per Lastwagen in das KZ Bergen-Belsen gebracht.
80 der Häftlinge allerdings bleiben in Lüneburg. Am darauffolgenden Tag werden sie von SS-Mann Jepsen und den Marinesoldaten grausam getötet. Die meisten per Genickschuss, wie Lüneburger Zeugen im Gerichtsprozess später berichten, sagte von Westernhagen nach Sichtung der Protokolle. Andere der KZ-Häftlinge wurden einfach erschlagen. Das hätten spätere Exhumierungen gezeigt.
Kriegsverbrecherprozess: Nur SS-Mann Jepsen verurteilt
"Das war nicht allein das Ding von Jepsen", ist sich von Westernhagen sicher. "Alle wussten Bescheid. Das war ein Deal zwischen dem damaligen Lüneburger Bürgermeister Johannes Hauschild, dem Gestapo-Chef Friedrich-Joachim Freitag, dem Chef der Schutzpolizei Otto Müller und den Bewachern der Häftlinge", sagte sie dem NDR vor einigen Jahren. Diese Rückschlüsse würden sich laut von Westernhagen ziehen lassen, wenn man neben dem Gerichtsurteil auch die Protokolle von über 30 Zeugenvernehmungen vor dem Prozessauftakt genau in Augenschein nimmt. Diese Protokolle hat die Autorin vom Londoner War Office zur Verfügung gestellt bekommen. Demnach habe unter anderem die Gestapo Waffen für das Massaker zur Verfügung gestellt. Und die Polizei habe gewartet, bis die Täter Lüneburg in aller Ruhe wieder per Zug wieder verlassen hatten.
Im Kriegsverbrecherprozess 1946 allerdings wurde nur Gustav Jepsen verurteilt. Ein Erschießungsbefehl war von Westernhagen zufolge lediglich mündlich überbracht worden. Zweck dieser Vorkehrung sei es gewesen, Jepsen nichts Schriftliches über den rechtswidrigen, verbrecherischen Befehl in die Hand zu geben, worauf sich dieser später hätte berufen können.
Obwohl ebenfalls angeklagt, wurden der Gestapo-Chef Freitag und der Schutzpolizei-Chef Müller freigesprochen. Müller wurde laut Dörte von Westernhagen freigesprochen, obwohl unterlassene Hilfeleistung als Straftatbestand im britischen Recht anerkannt war. Die Richter glaubten Müllers Lügen und Ausflüchten, er hätte zur Rettung der Häftlinge nichts tun können.
Russische Zwangsarbeiter verscharren die Leichen
Eine Gedenkstätte für die Opfer befindet sich in einem Waldstück am Stadtrand von Lüneburg. Dort, wo alle Toten des Transportes und der anschließenden Hinrichtung am 11. und 12. April 1945 in einem Massengrab verscharrt wurden. 244 Leichen sollen es gewesen sein. Die Beseitigung der Toten mussten russische Zwangsarbeiter übernehmen. Die Organisation der Aktion und den Transport der Leichen vom Exekutionsfeld in den Wald übernahmen laut Recherchen der Lüneburger Geschichtswerkstatt die Polizei und die Stadt.
Strafaktion: NSDAP-Mitglieder müssen Leichen umbetten
Die Verantwortlichen sollen gehofft haben, dass die britischen Truppen, die kurz danach die Stadt erreichten, die Opfer nicht finden würden, sagte von Westernhagen. Doch zumindest dieser Plan ging nicht auf. Ein halbes Jahr nach der Tat mussten Lüneburger Mitglieder der NSDAP in einer Strafaktion der britischen Armee die Leichen wieder ausgraben und in Särge betten, um sie an gleicher Stelle in Würde zu beerdigen. Ein Ehrenfriedhof wurde eingerichtet.
Lüneburger Gedenkstätte im Tiergarten: Ehrenfriedhof rekonstruiert
Mit den Jahrzehnten allerdings geriet der Friedhof immer mehr in Vergessenheit. Die sechs langen Grabreihen wurden bereits 1956 eingeebnet und Rhododendron darauf gepflanzt, der dort fast 60 Jahre lang wuchs. Nach mehreren Anläufen gelang es der Lüneburger Geschichtswerkstatt und Opferverbänden, die Stadtvertreter von einer Rekonstruktion des Ehrenfriedhofs zu überzeugen. Dies geschah dann Stück für Stück. Von ehemals 256 KZ-Häftlingen ruhen an der Gedenkstätte im Tiergarten Lüneburg heute noch 156 der damaligen Opfer.
Am 23. April 2023 wurde der Ort unter dem Titel "Ehrenfriedhof - Opfer der KZ-Häftlingstransporte 1945 im Tiergarten" feierlich neu eingeweiht. Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch sagte in ihrer Rede: "Es ist unser aller Aufgabe, diese Orte mit Leben zu füllen und uns immer wieder gemeinsam einzusetzen gegen das Vergessen."
Die Urfassung dieses Beitrags wurde bereits 2015 veröffentlicht.
