Vor 80 Jahren: Historische Mitte von Wismar wird zerbombt
Kurz vor Kriegsende lassen die Briten die historische Mitte von Wismar in Flammen aufgehen. Die Bombardierung dauert eine Dreiviertelstunde - danach ist das Gotische Viertel weitgehend zerstört. Die Wunde klafft bis heute.
Es ist einer der letzten Luftangriffe auf eine deutsche Stadt: In den Abendstunden des 14. April 1945 wird Wismar Ziel britischer Bomber. Wenige Tage später schreibt Einwohnerin Karla Schlottmann einen Brief an ihren Verlobten Ernst: "Wenn Du nur wüßtest, was hier alles los ist. Auf der Seite der Marienkirche muß eine Luftmine gefallen sein, gleichzeitig Brandbomben." Der Anblick sei schrecklich, berichtet die damals 30-Jährige. "Aber nicht nur die Marienkirche ist betroffen, viel schwerer noch die Georgenkirche. Die wunderschöne Orgel ist verschwunden." Viele Wohnhäuser im Stadtzentrum sind plötzlich unbewohnbar. Sie haben keine Dächer, Türen, Fenster mehr. Obdachlose Menschen irren durch die Stadt. "Im Laufe des Tages wirkte das Erleben der Nacht so stark in uns nach, daß wir alle Angst hatten, so eine Nacht noch einmal durchzumachen."
Erste bombardierte Stadt Mecklenburgs
Der verheerende Luftangriff ist nicht der erste, der die Ostseestadt trifft. Während des Zweiten Weltkrieges gab es zuvor neun andere. Beim ersten am 24. Juni 1940 - zugleich der erste auf eine Stadt in Mecklenburg - werfen fünf bis zehn britische Flugzeuge etwa 30 Spreng- und 40 Brandbomben ab. Vier Einwohner sterben, acht werden verletzt. Erklärtes Ziel des Angriffs sind die Norddeutschen Dornier-Werke. Aus militärischer Sicht ein legitimes Ziel, denn dort produzieren die Deutschen Kampfflugzeuge, für den von ihnen begonnenen Weltkrieg. "Alle Angriffe des Jahres 1940 zielten auf die Zerstörung der militärischen und industriellen Infrastruktur", berichtet Wismars Stadtarchivar Nils Jörn dem NDR 2025.
2.000 Brandbomben in einer Stunde
Besonders verheerend ist der achte Luftangriff auf Wismar. Am 24. September 1942 erscheinen am Himmel über der Hansestadt etwa 30 britische Flieger und lassen einen wahren Bombenregen fallen: 91 Sprengbomben, 1.500 Phosphor-Brandbomben, 500 Stabbrandbomben. Abgeworfen zwischen 2.48 und 3.45 Uhr. Den Angriff in dieser Nacht überleben 67 Menschen nicht. Neben den tatsächlichen Bombardierungen gibt es auch immer wieder Fehlalarme. Wenn die Sirenen durch die Nacht dröhnen, laufen Einwohner schnell in Bunker und Keller. "Eng gedrängt saßen wir im Schutzraum, ein kalter mit Staub vermischter Luftzug wehte durch den Gang", erinnert sich die Zeitzeugin Ursula Keller im 2013 veröffentlichen Buch "Bomben auf Wismar" an solche bangen Stunden. Immer wieder habe sich eine Frage gestellt: "Wird das unser Ende - eventuell unter Trümmern begraben zu sein?"
Nazi-Propaganda spricht von "Terrorrangriff"
Die nationalsozialistische Propaganda bezeichnet die Operationen der alliierten Luftstreitkräfte als "Terrorangriffe". Dass diese Art des hemmungslosen Luftkrieges gegen die Zivilbevölkerung auch ein Merkmal der eigenen Kriegsführung ist, wird bewusst ausgeblendet. Dabei fliegt die deutsche Luftwaffe selbst viele Angriffe auf Wohngebiete. Egal ob Warschau, London, Coventry, Rotterdam - auch die Deutschen nehmen zivile Opfer bewusst in Kauf. Es herrscht sinnlose Gewalt und Zerstörungswut. Ob der Luftangriff auf Wismar im April 1945 militärisch Sinn hatte, ist fraglich. Gut drei Wochen vor Kriegsende wird das historische Herz der Hansestadt in Schutt und Asche gelegt, obwohl von der Stadt keine Bedrohung ausgeht. Sie war voll mit Flüchtlingen. In der Literatur wird die Bombardierung der norddeutschen Stadt daher oft als ein sogenannter Entlastungsangriff gewertet.
NS-Zeitungen verschweigen den Angriff
Hauptangriffsziel der britischen Royal Air Force ist in dieser Nacht Potsdam, wo fast 1.600 Todesopfern zu beklagen sind. Der "Rostocker Anzeiger" berichtet am Tag danach: "Potsdam, die historische Residenz Friedrich des Großen, war das Ziel eines nächtlichen britischen Terrorangriffs." Erhebliche Teile der historischen Altstadt und auch die Garnisonkirche seien zerstört. Auf die Katastrophe in der Nachbarstadt geht das Blatt nicht ein. "Außerdem wurden Bomben auf die Reichshauptstadt und im norddeutschen Küstengebiet geworfen", heißt es lapidar. Auch das Schweriner NSDAP-Blatt "Niederdeutscher Beobachter" verschweigt den Angriff auf Wismar. Stattdessen druckt das Blatt am 16. April Durchhalteparolen. Jede deutsche Frau, jeder deutsche Mann müsse "ausharren, tapfer sein und dem Feind schaden, soviel und wo man nur kann".
"Leberwürste" als Schutz vor Bombern
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Dass Wismars Innenstadt so stark zerstört wurde, lag möglicherweise auch am unzureichenden Luftschutz. In seinen Lebenserinnerung schreibt der Flakhelfer Heinz Blohm, dass seine Heimatstadt feindlichen Luftangriffen am Kriegsende kaum etwas entgegensetzen konnte: "Die schweren Geschütze werden immer wieder woanders in Norddeutschland eingesetzt. Wismar ist in solchen Wochen oder gar Monaten ohne durchschlagenden Schutz." Um den Einwohnern dennoch das Gefühl zu geben, es würde alles getan, positioniert man rund um die Stadt Fesselballons. "Sie schweben Tag und Nacht in niedriger Höhe - im Volksmund Leberwürste benannt - und werden bei Voralarm einige Hundert Meter hochgelassen“, schreibt Blohm in seinen Erinnerungen. Nicht nur im April 1945 erweisen sich die Ballons als wenig effektiv, denn die Bomber fliegen auf deutlich höher.
Genaue Fotodokumentation aller Schäden
Die Schäden, die die Bombardierungen in Wismar anrichten, sind bis heute detailliert nachvollziehbar. Im Auftrag der NSDAP-Kreisleitung und der Stadt entsteht im Zweiten Weltkrieg eine Fotodokumentation. Sie ist im Wismarer Stadtarchiv erhalten und einsehbar. Nach fast jedem Angriff ziehen Fotografen los und halten die Verwüstungen im Bild fest. Beispielsweise den schwer beschädigten östliche Flügel des Wismarer Rathauses. Er wird zunächst notdürftig geflickt. Richtig instandgesetzt aber erst in der 1970er-Jahren. Nicht nur die britischen Bomben sorgen für nachhaltige Schäden an der historischen Bausubstanz. "Wegen fehlender Dachziegel erreichte der Verfall auch die Häuser, die besser erhalten geblieben waren, jeden Tag ein Stückchen mehr", erzählt Nils Jörn.
Abriss statt Restaurierung
Vom Gotischen Viertel ist auch deshalb heute kaum noch etwas zu sehen. Wismars Stadtarchivar spricht von der "verlorenen Mitte". Am spürbarsten ist dieser Verlust rund um die frühere Marienkirche. Von ihr steht nur noch der 80 Meter hohe Turm. Weil er auch als Seezeichen bedeutend ist, entging das massive Kulturdenkmal aus der Zeit der Backsteingotik dem Abriss. Gegen den Willen und unter Protest vieler Wismarer wurde das Kirchenschiff 1960 gesprengt - obwohl von der Ruine keine unmittelbare Gefährdung ausging. Der Grundriss ist heute durch Aufmauerungen nachvollziehbar. "Wismars verlorene Mitte lässt sich auch als zentraler Erinnerungsort für die Opfer des Zweiten Weltkrieges und Mahnmal für den Frieden verstehen", meint der Historiker und Archivar Nils Jörn.
Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag
In Wismar ist am Freitagnachmittag der Opfer des Fliegerbombenangriffs auf das Gotische Viertel gedacht worden. Die Gedenkveranstaltung fand in der Sankt-Georgen-Kirche statt, zu der Wismars Bürger eingeladen waren. Mit dabei unter anderem: die Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Kristina Kühnbaum-Schmidt.
