Die Unlesbarkeit der Welt: Leben wir in unsicheren Zeiten?
Der Krieg in der Ukraine, die Inflation und der Klimawandel verunsichern viele Menschen in Deutschland. Der neue Philosophie-Podcast Tee mit Warum fragt: "Leben wir in einer unsicheren Gesellschaft" - oder fühlt sich das nur so an?
"Sicherheit ist ein Gefühl, in der Welt zu Hause zu sein, sich im eigenen Dasein vertraut zu fühlen", sagt der Philosoph Christian Uhle in der ersten Folge von Tee mit Warum. In den vergangenen Jahren haben viele Ereignisse dieses Vertrauen ins Wanken gebracht. Die Corona-Pandemie hat innerhalb kürzester Zeit das gesellschaftliche Leben auf den Kopf gestellt, der Ukraine-Krieg brach mit der Vorstellung von "Nie wieder Krieg in Europa", die Inflation stellt viele Menschen vor ökonomische Probleme und der Klimawandel schürt Zukunftsängste. "Wenn die Welt um uns herum Brüche bekommt, das kann auf einer weltpolitischen Bühne sein oder privat, dann verlieren wir zwar nicht unsere Sprache, aber ein Stück weit wird die Welt für uns unlesbar", schildert Uhle. "Sie beginnt sich uns zu entziehen: In dem Moment ist natürlich auch die eigene Sicherheit ein Stück weit gefährdet."
Sicherheitsgefühl zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Zwei Drittel der Deutschen äußert in einer repräsentativen Umfrage der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen, dass die unsichere Zukunft sie stresst. "Dieses Stressempfinden, das ist eigentlich ein Zeichen dafür, dass wir uns als Gesellschaft unsicher fühlen", sagt Tee mit Warum-Gastgeberin Denise M'Baye. "Ob wir das wirklich sind, das weiß ich nicht."
Doch was macht eine Gesellschaft überhaupt zu einer sicheren Gesellschaft? "Neben der Zukunftsvorstellung sind das auch so etwas wie Gesetze, eine ökonomische Sicherheit, eine Frage von Moral und gesellschaftliche Konsens, dass sich Menschen in einer Gesellschaft sicher fühlen", sagt Tee mit Warum-Host Sebastian Friedrich in der zweiten Folge. Das Sicherheitsgefühl stehe immer in einem Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit.
Starkes soziale Sicherungsnetz
"Wir leben auf sehr hohem Niveau und das macht uns manchmal ein bisschen Sorge, inwiefern wir das halten können", sagt Philosophin Marie-Luisa Frick. Die Gesellschaften in den westlichen Wohlfahrtsstaaten würden sehr viele Sicherheitsversprechen geben. "Wir müssen nicht hungern, wir haben es warm, wir sind gut versorgt - das ist alles sicherheitsrelevant", schildert die Philosophin. "Wenn wir uns anschauen vor 100 Jahren: Da waren die Menschen weitgehend auf sich und ihre Familienverbände gestellt, wenn sie existenziell in Schwierigkeiten gekommen sind. Wir haben soziale Netze, die auch für Personen da sind, die nicht in Familienverhältnissen abgesichert sind." Die soziale Sicherheit sei eine unglaubliche Errungenschaft. "Je höher die Sicherheitsversprechen der Gesellschaft ausfallen, desto höher sei aber auch die Gefahr, dass etwas stockt. "Je weniger Sicherheit in einer Gesellschaft versprochen wird und von staatlichen Institutionen geleistet, desto weniger kann auch verloren gehen", so Frick.
Rechtssicherheit ist keine Selbstverständlichkeit
Das bestätigt auch der Reporter Holger Senzel, der für die ARD aus zahlreichen Kriegsgebieten berichtet hat. Er betont die Bedeutung der Rechtssicherheit: "Wenn ich in Deutschland bestohlen oder betrogen werde, dann gehe ich zur Polizei. Das klingt furchtbar banal, aber kann man gar nicht hoch genug wertschätzen." Als Reporter in den Balkankriegen hat er erlebt, was es bedeutet, wenn ein Staat diese nicht gewährleisten kann. "Wenn Menschen von der Flucht nach Hause kamen und da wohnten andere Menschen in ihrem Haus: Die hatten das einfach besetzt und die blieben auch da - weil sie eine Kalaschnikow hatten."
Sicherheit hängt viel mit Kontrolle über das eigene Leben zusammen
"Freiheit und Sicherheit sind keine absoluten Begriffe, sondern sind abhängig von anderen Menschen", zieht Sebastian Friedrich als Fazit der Folge. Das Leben hänge viel von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen ab, auf die Einzelne wenig Einfluss haben. "Das Gefühl handelndes Objekt zu sein, das ist vielen Menschen abhandengekommen. Das Gefühl selbst etwas verändern zu können", so Friedrich. Dies zeigt sich vor allem beim Klimawandel und Bewegungen wie der "Letzten Generation", die die negative Zukunftserwartung schon im Namen trägt. "Der Fortschrittsoptimismus der Aufklärung ist uns in den letzten Jahren durch die Finger geronnen", sagt Philosophin Marie-Luisa Frick.
Im Philosophie-Podcast Tee mit Warum sprechen Denise M‘Baye und Sebastian Friedrich über die großen Fragen des Lebens, stellen dabei aber auch den Bezug zum Alltag her. Die ersten beiden Folgen zum Thema Sicherheit stehen bereits in der ARD Audiothek - und überall, wo es Podcasts gibt.