Kulturelle Aneignung: Ist Puccinis "Turandot" ein Problem?
Ab wann spricht man von Kultureller Aneignung und ab wann wird es problematisch, sich etwas anzueignen und in das eigene Werk zu überführen? Diese Frage ist auch in der Klassik und gerade in der Gattung Oper aktuell.
Kulturelle Aneignung ist wahrscheinlich so alt wie Kultur selbst. Weil Kunstschaffende schon immer Einflüsse von außen in ihr Schaffen aufgenommen haben. Aber ab wann wird es problematisch, sich etwas anzueignen und in das eigene Werk zu überführen? Diese Frage ist auch in der Klassik und gerade in der Gattung Oper aktuell.
Vorurteile aus einer längst vergangenen Zeit
Die Arie "Nessun‘ dorma" aus Puccinis "Turandot" ist einer der größten Hits der Klassik und führt mittenrein in das komplexe Thema der Kulturellen Aneignung - mit all seinen Problemen und Ambivalenzen. Einerseits hat Puccini in der 1926 uraufgeführten Turandot eine umwerfende, teilweise geniale Musik geschrieben. Das stellt auch kaum jemand ernsthaft in Frage. Andererseits sind die Handlung und das ganze Setting aus heutiger Sicht problematisch, weil sie viele westliche Klischees über ein vermeintlich märchenhaftes Asien beinhalten.
Puccinis Fantasiebild der "barbarischen" Prinzessin Turandot
Das Stück erzählt von einer grausamen, buchstäblich männermordenden Prinzessin aus der persischen Märchensammlung "Tausendundein Tag". Puccini verlegt die Handlung an einen imaginären chinesischen Kaiserhof. Dabei kannte der Komponist China nur vom Hörensagen und hat viele Stereotype bedient. Die Figur der unnahbaren Prinzessin Turandot ist etwa eine Variante vom Fantasiebild einer "barbarischen" Wilden, und die drei Minister Ping, Pang und Pong wirken nicht nur durch ihre Namen stellenweise wie Karikaturen asiatischer Männer.
Eine Faszination für das Fremde - geprägt vom kolonialistischen Blick
Puccini hat sich durchaus ernsthaft mit chinesischer Musik beschäftigt, die ihm zugänglich war. Er war fasziniert von der Idee einer fernen Welt - wie so viele Künstlerinnen und Künstler des Exotismus. Das ihnen Fremde herabzusetzen, war wahrscheinlich nicht ihre Absicht, ganz im Gegenteil: Sie haben für ihre Fantasiebilder eher geschwärmt. Allerdings eben nicht auf Augenhöhe, sondern zumindest unbewusst von oben herab.
Der Exotismus ist eng mit der Gedankenwelt der Kolonialzeit verbunden, das Interesse an außereuropäischen Sujets geht einher mit der Abgrenzung zwischen der "eigenen" und der "fremden" Kultur - sowie mit einer klaren Hierarchie: Die europäische Kultur galt selbstverständlich als allen anderen überlegen.
Mozart bis Bizet: Triggerwarnungen für Sterotype in der Klassik
Das Bild von fernen Ländern und den Menschen, die dort leben, hat in Opern von Mozarts "Entführung aus dem Serail" bis zu Bizets "Carmen" oft nur wenig mit der Realität zu tun. So entstehen Klischeebilder und Stereotype - wie eben die scheinbar gefühlskalte asiatische Prinzessin Turandot bei Puccini. Wie soll man heute mit diesen Stereotypen umgehen? Dazu hat die Journalistin Katherine Hu, eine US-Amerikanerin mit taiwanesischen Wurzeln, 2019 eine klare Meinung formuliert:
Um zu überleben, sollte die Oper die Tiefen ihres Rassismus und Sexismus klipp und klar ansprechen und die Oper wie historische Artefakte behandeln. Regisseure sollten sich einer Neuproduktion annähern wie Kuratoren in einem Museum. Indem sie das Publikum über den historischen Kontext informieren und die Stereotype sichtbar machen. Katherine Hu, New York Times
Katherine Hu plädiert also nicht dafür, die problematischen Stücke umzuschreiben oder sie gar von den Spielplänen zu streichen, sondern die Besucherinnen und Besucher entsprechend vorzubereiten. Die New Yorker Met hat etwa für Aufführungen von Puccinis "Turandot" im März 2024 eine Art Triggerwarnung herausgegeben. Auf der Website der Oper hieß es damals: "Es sollte nicht überraschen, dass der Besuch vielen Zuschauern chinesischer Abstammung schwer fällt, da ihr eigenes [kulturelles] Erbe vereinnahmt, zum Fetisch gemacht und als wild, blutrünstig und rückständig dargestellt wird."
Staatsoper Hamburg plant Aufklärung im Begleitprogramm
Aufführungen mit einem einführenden Text vorzubereiten, ist eine von vielen Möglichkeiten, mit belasteten Werken umzugehen. Der designierte Intendant der Staatsoper Hamburg, Tobias Kratzer, will seinem Publikum noch mehr Angebote machen, wenn es darum geht, ältere Produktionen oder eben problematische Stücke einzuordnen und zu reflektieren. Kratzer möchte die Opernaufführungen mit zusätzlichen Veranstaltungen wie etwa Podiumsdiskussionen oder Vorträgen flankieren. Es wird aber auch Leseempfehlungen zu den betreffenden Themen geben und ein Gesprächsangebot in den Foyers der Staatsoper.
Was er konkret plant, hat Tobias Kratzer am Beispiel von Puccinis "Madame Butterfly" erklärt. "Da hören Sie vielleicht im Stück den Exotismus Puccinis, der was Kolonialistisches hat. In der Pause und im Anschluss an die Vorstellung werden Sie dann aber mit einem wirklichen japanischen Originalklangensemble konfrontiert. Darauf folgt vielleicht eine Diskussionsveranstaltung zum Frauenbild vom Anfang des 20. Jahrhunderts."
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