Cover: Martin Puchner: "Kultur. Eine neue Geschichte der Welt." © Klett Cotta
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AUDIO: Kulturelles Recycling: "Kultur. Eine neue Geschichte der Welt" (4 Min)

Kulturelles Recycling: "Kultur. Eine neue Geschichte der Welt"

Stand: 10.04.2025 13:46 Uhr

Kultur ist ein Recycling-Produkt, meint der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler Martin Puchner. In seinem Buch betrachtet er, wie sie durch Handel, Wiederentdeckung oder Nachahmung immer wieder neu genutzt wurde.

von Severine Naeve

An ausgewählten Beispielen zeigt Puchner, wie wir Menschen schon immer aus unterschiedlichen vergangenen Epochen gelernt haben. Die Reise beginnt in der Chauvet-Höhle In Frankreich. In zwei Perioden der Menschheitsgeschichte wurden die Wände dieser Höhle mit ihren Malereien zu einer Dokumentation der jeweiligen Lebenswelten - angefangen vor 37.000 Jahren. Die Überbleibsel lange vergangener Kulturen dokumentieren eine Schablonentechnik, die heute noch von Street Art Künstlern wie Banksy benutzt wird.

In einigen Fällen hinterließen die Höhlenkünstler an den Wänden mit Lehm oder Pigmenten Abdrücke ihrer Hände. In anderen "übersprühten" sie eine an die Felswand angelegte Hand mit Farbe und ließen ihren Umriss zurück. Leseprobe

Auf den Spuren berühmter Kunstwerke

In den 15 Kapiteln seines Buches nimmt einen Martin Puchner mit an Orte von großer kultureller Bedeutung oder an den Ursprung bis heute berühmter Kunstwerke. Er beschreibt nicht nur ihre Entstehungsgeschichte, sondern auch, wie daraus abgeleitete Techniken und Erkenntnisse viele spätere Kulturen geprägt haben.

"Kopfkissenbuch" als Klassiker japanischer Literatur

Man lernt, wie die Aufzeichnungen im sogenannten "Kopfkissenbuch" einer Hofdame der japanischen Kaiserin im zehnten Jahrhundert zur chinesisch-japanischen Kulturdiplomatie beigetragen haben. Puchner beschreibt auch, wie sie uns heute noch einen tiefen Einblick in diese Zeit und eine Welt gewähren, die auch damals vielen Menschen verborgen geblieben ist. Bis heute ist das "Kopfkissenbuch" der Hofdame Sei Shonagon ein Klassiker der japanischen Literatur.

Hofklatsch bildete nur einen kleinen Teil dieses Tagebuchs. Shonagon erstellte Listen mit Dingen, die sie bewunderte. Während sie Momente erlesener Schönheit in Natur und Kultur einfängt, kommentiert sie auch die gesellschaftlichen Umgangsformen und erquickliche Momente im höfischen Leben. Wie sich ein Geliebter am Morgen (widerstrebend!) entfernen soll, wie sich ein junges Mädchen zu kleiden hat (eher leger) und wie eine Expedition zu einem Schrein verlaufen muss (nach strengem Protokoll). Leseprobe

Wie Kultur sich weiterentwickelt

Die berühmte Büste der Nofretete war wahrscheinlich nur ein Modell, mithilfe dessen der Bildhauer Thutmosis seinen Schülern eine neue Technik beibringen wollte. Altes Handwerk, angepasst an damals aktuelle gesellschaftliche Umbrüche. Puchner erklärt auf wenigen Seiten, wie die alt-ägyptische Kultur gleichzeitig eine des Verwahrens und Erinnerns war und eine, die mit Traditionen gebrochen hat. Auch die japanische Holzschnitt-Technik, für die Katsushika Hokusais Bild "Die große Welle von Kanawanga" eines der berühmtesten Beispiele ist, war einst wegweisend und wurde vielfach adaptiert und weiterentwickelt. "From Cave Art to K-Pop" - also von der Höhlenmalerei bis zu südkoreanischem Pop - ist der englische Untertitel des Buches, das zuerst in den USA erschienen ist. Der Titel fasst Puchners Botschaft der so wichtigen kulturellen Vermischung gut zusammen. 

Die Koreanische Welle erreichte ein so gewaltiges Publikum, indem sie von Anfang an auf einen Stilmix, darunter auf Rock, Jazz, Reggae und Afrobeat setzte. Die musikalische Signatur beruht auf R&B-Dance-Tracks mit schweren Beats, "soften" Rap-Einlagen, zumeist gesungen auf Koreanisch mit englischen Einsprengseln (wie "Gangnam Style"). Die Videos arbeiten häufig mit Einlagen von Synchrontanz, die in der US-produzierten Pop-Kultur weniger verbreitet, aber in anderen Traditionen, unter anderem in Bollywood-Filmen, besonders beliebt sind. Leseprobe

Neue Erkenntnisse durch kulturelle Anleihen

Kultur nicht als Ressource einer einzelnen Gruppe zu sehen, zu erkennen, dass sie im Austausch mit anderen entsteht und eine Verschmelzung von Ideen ist - das vermittelt Martin Puchner wissensreich, unterhaltsam und leicht verständlich.

Einige der bedeutendsten Zivilisationen erlebten dadurch eine Entwicklung, dass sie sich am Kulturgut anderer bedienten: Ein König in Indien importierte aus Persien die Kunst, Pfeiler zu errichten, die Römer führten Literatur, Theater und Götter aus Griechenland bei sich ein, derweil ersannen die Äthiopier einen Gründungsmythos, der sie mit der hebräischen und christlichen Bibel verband. Begleitet wurden all diese Beispiele für kulturelle Anleihen von Missverständnissen und Irrtümern, aber sie wirkten oftmals produktiv und brachten neue Erkenntnisse hervor. Leseprobe

Kulturelle Aneignung erscheint in anderem Licht

Martin Puchner verklärt dabei keineswegs die kolonialistische Ausbeutung. Ein Grund, warum wir heute zurecht sensibel auf kulturelle Übernahmen reagieren, ist in der Gewalt begründet, mit der sie oft auch einher gingen. Aber er zeigt viele Beispiele auf, in denen nachfolgende Zivilisationen von den Kulturgütern vorheriger Gesellschaften profitiert und auf diesen aufgebaut haben. Die heute vieldiskutierte und kritisierte kulturelle Aneignung erscheint einem nach Lesen dieses Buches in anderem Licht.

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Kultur. Eine neue Geschichte der Welt

von Martin Puchner
Seitenzahl:
432 Seiten
Genre:
Sachbuch
Zusatzinfo:
Aus dem Amerikanischen von: Enrico Heinemann
Verlag:
Klett-Cotta
Veröffentlichungsdatum:
12. April 2025
Bestellnummer:
978-3-608-96659-6
Preis:
35 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 10.04.2025 | 06:00 Uhr

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