Ein Mann mit Brille schaut in die Kamera © Klett-Cotta Foto: Johannes Marburg
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AUDIO: Martin Puchner: "Idee des Kulturbesitzes für niemanden gut" (7 Min)

Martin Puchner: "Idee des Kulturbesitzes für niemanden gut"

Stand: 10.04.2025 16:39 Uhr

Der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler Martin Puchner spricht über sein Buch "Kultur. Eine neue Geschichte der Welt", über Besitzdenken, kulturelles Recycling, KI und das Leben als Wissenschaftler in den USA.

Martin Puchner nimmt uns zu Beginn des Buchs mit in die Chauvet-Höhle im Jahr 35.000 vor Christus. Was dann folgt, ist nicht nur ein spannender Ritt durch die Jahrtausende, sondern auch eine Betrachtung darüber, dass Kultur nicht nur aus den Ressourcen einer Gemeinschaft erwächst, sondern vor allem auch durch die Begegnungen mit anderen Kulturen. Es wirft also einen Blick auf das, was in den letzten Jahren als "kulturelle Aneignung" von vielen gefürchtet wird und was zu einer Lähmung im Austausch führen kann.

Herr Puchner, vorweg vielleicht, woher kommt denn überhaupt dieses Besitzdenken in Bezug auf Kultur?

Martin Puchner: Das hat, glaube ich, verschiedene Quellen. Einmal ist es natürlich ein Kerngedanke des Nationalismus, dass Nationen ihre eigene Kultur haben und dass man sich da irgendwie abschotten kann. Gleichzeitig, wie Sie erwähnt haben, gibt es da aber auch jetzt noch eine neuere Quelle aus der linken politischen Ecke, wo es dann darum ging, hauptsächlich Minderheitenkulturen zu schützen vor dem Einfluss dominierender Kulturen - oder die Kultur von kolonisierten Völkern zu schützen vor dem Einfluss der Kolonialherren. Das ist natürlich verständlich. Ich bin auch dafür, Kulturen zu schützen, aber ich hatte auch das Gefühl, dass diese Idee des Kulturbesitzes für niemanden gut ist. Wenn Einzelne oder Gruppen Kulturen "besitzen" und dort ständig Verbotsschilder aufstellen können, ist das für niemanden gut, auch nicht für die Kulturen, die sich auf diese Art schützen wollen.

Erst kürzlich haben Sie in einem Interview mit Zeit Online gesagt: Aus dem Kulturverständnis der AfD lasse sich viel Angst herauslesen. Es gebe dieses Besitzdenken aber auch auf der linken Seite, wie Sie gerade gesagt haben. Die Motive sind hier also andere. Welche sind das denn genau?

Puchner: Die Motive sind wirklich andere und es ist wichtig, das immer mit zu bedenken. Die Motive, glaube ich, bei der linken Variante sind der Schutz von vulnerablen Gruppen, die dominierenden Kulturgruppen ausgesetzt sind. Gruppen, bei denen man das Gefühl hat, wenn die jetzt nicht geschützt werden, dann verschwinden die vielleicht total oder werden als reine Opfer von dominierenden Kulturen gesehen. Dieser Schutz ist, glaube ich, sehr wichtig, auch um vergangenes Unrecht ungeschehen zu machen oder dafür zu kompensieren.

Wenn man Ihr Buch liest, Ihre Kulturgeschichte, dann ist das eine Feier eines globalen Remixes. Der Transfer, die Kopie, all das spielt eine große Rolle. Sie verteidigen hier keinen abendländischen Kanon, sondern haben eine Sicht auf die Kultur, die chaotisch und deswegen besonders interessant ist, wie Sie selber schreiben. Man könnte sagen, wir leben ja in einer Zeit grober Vereinfachungen. Was lehrt uns denn die Kulturgeschichte, was aus solchen Vereinfachungsversuchen üblicherweise folgen kann?

Puchner: Ich glaube, diese Vereinfachung führt zu einer Polarisierung. Ich bin viel im Kulturbereich unterwegs. Ich unterrichte Studierende und berate Kulturinstitutionen. Da wird von "Kulturkampf" gesprochen, von diesen Fragen der Aneignung, bei denen man das Gefühl hat, dass Kultur in Grabenkämpfe verwickelt ist. Mir ist aufgefallen, dass immer mehr Kulturschaffende selber in diesen Kulturkampf, in diese Grabenkämpfe gezwungen wurden. Das führt zu einer Vereinfachung. Im schlimmsten Fall führt es dazu, dass man sich selbst von den kulturellen Ressourcen, zu denen man Zugang haben könnte, abschneidet und dann verkümmert Kultur.

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Cover: Martin Puchner: "Kultur. Eine neue Geschichte der Welt." © Klett Cotta

Kulturelles Recycling: "Kultur. Eine neue Geschichte der Welt"

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Über die Gegenwart zu schreiben, ist vielleicht immer mit am heikelsten, weil man da ja so besonders nah dran ist. Nehmen wir mal ein Thema wie künstliche Intelligenz. Sie selbst haben sogar eine eigene Chat-GPT-Version erstellt, einen Frankenstein-Monster-Chatbot. Kann AI also Kultur produzieren oder solche hervorbringen? Würden Sie das so nennen?

Puchner: Das ist auch wieder so eine Vereinfachung. Wir co-produzieren mit KI, genauso wie mit anderen Technologien. Insofern ist die Frage nicht ganz richtig gestellt. Aber ja, ich denke, dass in diesem Miteinander auf jeden Fall, wie auch bei anderen Technologien, Kultur rauskommt. Und was ganz besonders interessant ist bei KI: Jeden Tag versuche ich, alte Texte, sehr schwierige Texte wieder einer jungen Generation zugänglich zu machen. Da finde ich diese Chatbots wahnsinnig interessant, weil das bedeutet, dass man sich im Grunde mit einem alten Text unterhalten kann. Zum Beispiel mit Sokrates oder Konfuzius: Ich habe da ganz viele gebaut. Es ist ein wahnsinnig intuitiver, interessanter und lebendiger Zugang. Da zum Beispiel Sokrates selber mit Dialogen gearbeitet hat und es abgelehnt hatte zu schreiben, würde ich glauben, dass Sokrates dem zugestimmt hätte.

Sie selbst schauen also nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch weit voraus. Und Sie lehren in Harvard, waren davor an der Columbia University. Aus aktuellem Anlass frage ich das auch Sie: Erleben Sie auch das, was man Brain Drain nennt, also die Abwanderung einiger Wissenschaftler jetzt aus den USA in der zweiten Trump-Ära? Wir haben gestern hier auf NDR Kultur darüber berichtet. Manche gehen freiwillig, andere unfreiwillig. Was bekommen Sie aus Ihrem Umfeld davon mit?

Puchner: Ein Kollege und ich haben gestern beim Mittagessen diese Szenarien durchgespielt. Wie schlimm muss es jetzt noch kommen? Was ist die Situation? Ich versuche im Moment, mich von diesen Untergangsszenarien nicht zu sehr einverleiben zu lassen. Ich habe selber ein Buch zu den 30er-Jahren und 40er-Jahren in Deutschland geschrieben. Natürlich kenne ich diese Filme und die laufen auch in meinem Kopf ab. Aber ich glaube, dass sich langsam auf jeden Fall auch immer stärkerer Widerstand regt. Ich glaube, dass die Midterm-Elections in eineinhalb Jahren uns viel mehr Klarheit geben werden. Ich bin eigentlich immer schon ein Optimist gewesen. Seit 30 Jahren lebe ich in den USA und mein Lebensmittelpunkt ist einfach hier. Also, so schlimm ist es noch nicht.

Das Gespräch führte Philipp Cavert.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 10.04.2025 | 16:30 Uhr

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