Weihnachten: Mehr als eine Zeitenwende
Das Wort Zeitenwende ist das Wort des Jahres. Unser Gastautor Christoph Störmer zeigt in seinem Essay auf, wie er die Geburt Christi als Zeitenwende versteht.
Allem Anfang wohnt ein Zauber inne. Das behauptet jedenfalls Hermann Hesse in seinem bekannten Stufen-Gedicht. Ob er dabei auch an Weihnachten gedacht hat? Alle Jahre wieder erinnert uns dieses Fest an einen besonderen Anfang. Tatsächlich vermag die Geburtsgeschichte, wie sie der Evangelist Lukas überliefert, zu verzaubern. Sie klingt für viele Ohren heimatlich vertraut: "Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie fanden sonst keinen Raum in der Herberge." Angesichts des offenen Himmels und der himmlischen Heerscharen über den Feldern von Bethlehem und im Licht unserer traditionellen weihnachtlichen Ausschmückungen bekommt diese Szene etwas Anheimelndes, Bergendes, Tröstliches.
Allem Anfang wohnt ein Zauber inne? Manche können es nicht mehr hören. Sie nehmen Reißaus vor einem Fest, das an einen Anfang erinnert, der keinesfalls zauberhaft war. Für Unzählige ist die Reise zu den Anfängen, in die eigene Kindheit, ein Horror und die Wiederkehr alter Traumata. Weihnachten reißt alte Wunden auf.
Weihnachten: Es ist immer noch da
Marie Luise Kaschnitz erzählt von einem Jungen, der zufällig in einer alten Schachtel einen silbernen Stern findet: "Was ist das?" Die alleinerziehende Mutter will die Frage abschütteln: "Etwas von früher." Doch ihr Sohn lässt nicht locker. Er hört "Weihnachtsstern" und "Baum in der Wohnstube" und "kleiner Jesus in seiner Krippe" und will mehr wissen. Die Mutter schaltet den Fernseher an. Doch das Kind will nicht die Marspiloten sehen, sondern wissen, "was mit dem kleinen Sowieso war". - Es war, sagt die Mutter unwillkürlich, zur Zeit des Kaisers Augustus..."
Aber dann erschrickt sie und wird still. "Sollte das alles noch einmal von vorne anfangen, zuerst die Hoffnung und die Liebe und dann die Gleichgültigkeit und die Angst?" Nein! Die Mutter lockt das Kind zu einem Spiel: Es darf den alten, unansehnlichen Stern in den Müllschlucker des Hochhauses fallen lassen. Lachend wirft es den Stern in die Röhre. Die Mutter hat sich längst abgewandt, doch das Kind steht noch immer über den Müllschlucker gebeugt: "Ich sehe ihn immer noch, flüsterte es, er glitzert, er ist immer noch da."
So ist das wohl mit Weihnachten. Es ist immer noch da. Man kommt, so oder so, nicht daran vorbei. Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Und unser Blick wird zurückgelenkt - in eine dunkle, verwirrende, geheimnisvolle Kindheit. Wir begegnen einer Wiege, der eigenen und der des Christentums - beides kennen wir nur vom Hörensagen.
Weihnachten als Reset-Taste
Dabei geht es um Faszinosum und Tremendum zugleich, um das, was auch Religion ausmacht: Da sind Anziehungskräfte, die faszinieren und Sehnsucht wecken. Und Fliehkräfte, die uns erschaudern lassen oder erschrecken. Für den Philosophen Ernst Bloch gibt es in der Welt einen Wärmestrom, der auch gespeist wird von dem, was am Anfang aufleuchtet wie ein Leitstern, der in eine bessere Zukunft weist.
Die weihnachtliche Zeitenwende lässt uns von Sterblichen - mit Hannah Arendt gesprochen - zu "Gebürtlichen" werden. Wenn das keine Revolution ist! Weihnachten als heilsame Unterbrechung in einer Welt, die täglich mit Todesnachrichten überflutet wird. Weihnachten als Reset-Taste. Alles auf Anfang. Denn wir sind mit einem Vermögen zum Beginnen begabt.
Die etwas andere Friedensbotschaft
Die weihnachtliche Zeitenwende enthält auch eine politische Provokation. Lukas verortet sein Evangelium in einer Welt, die vom römischen Imperium beherrscht wird. Dessen Statthalter halten mit ihrem Militär noch die kleinste Provinz in Schach. "Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging ..." Dieser Pax Romana, dem auf Unterwerfung gegründeten Frieden, wird auf subversive Weise der Kampf angesagt. Und zwar draußen, bei den kleinen Leuten, den Tagelöhnern, den Hirten in Bethlehem. Was immer man unter den himmlischen Heerscharen verstehen mag, die Gott die Ehre geben und einen Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens verkünden - diese etwas andere Friedensbotschaft macht die Mächtigen in den Metropolen nervös. Das führt sogar, wie der Evangelist Matthäus zu berichten weiß, zum Kindermord von Bethlehem - potentielle Herausforderer der bestehenden Machtverhältnisse werden präventiv getötet. Nur durch Flucht nach Ägypten konnte sich die "heilige Familie" diesem Massaker entziehen.
Noch eine weitere Zeitenwende wird mit Weihnachten eingeläutet: das Ende des Patriarchats, der Männerherrschaft. Das mag plakativ klingen. Doch was die Bibel dazu sagt, das hat Charme und Chuzpe. Nicht länger definiert sich eine Frau über den Mann. Diesem wird eine neue Rolle zugewiesen - in die er einwilligt. Das wird uns auf berührende Weise erzählt. Zugleich wächst Maria über sich hinaus.
Wie kann Gott all das Böse zulassen?
Schlussendlich kann man Weihnachten als einen Versuch deuten, der Theodizee-Frage eine neue Wendung zu geben. Bis heute fragen sich Menschen, ob gläubig oder nicht: Wie kann Gott - wenn es ihn denn gibt - all das Böse zulassen, was in der Welt geschieht. Die Bibel ist noch radikaler, da hat die Frage einen Adressaten: Warum tust du, Gott, mir das an? Für das Insistieren auf einer Antwort steht Hiob. Dessen Freunde halten das zunehmend für blasphemisch und beginnen, Gott zu verteidigen. Doch Hiob lässt sich nicht einschüchtern. Weil für ihn all das Unglück, dass ihn ereilt, kein blindes, anonymes Schicksal ist, sondern Gottes Werk, fordert er Rechenschaft.
Am Ende des Buches bleibt Gott eine Antwort schuldig. Mit großem Getöse demonstriert er zwar seine Allmacht, doch an der hat Hiob nie gezweifelt. Er gibt auf - streut Asche auf sein Haupt: Ja, im Vergleich zu Gott ist er ein Wurm, das weiß er. Doch der Stachel seines Widerspruchs bleibt. In der Zwiesprache mit Gott schleudert er diesem trotzig entgegen: "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt."
Gott will im Menschen wohnen
Damit ist die Frage nach dem Bösen in der Welt noch nicht aufgelöst: Doch zumindest steht Gott seit Weihnachten nicht mehr teilnahmslos draußen. Er hat sich verbunden mit dem Menschen. Ein neues Band, ein neuer Bund. Da ist ein Gott, der Anteil nimmt am menschlichen Schicksal und Anteil gibt an dem seinen. Ist das ein Trost?
Die "Einwohnung" Gottes, von der die hebräische Bibel im Jesaja-Buch schreibt, lässt im Menschen eine Präsenz, eine göttliche Gegenwart aufleuchten, die das Judentum bis heute "Schechina" nennt.
Weihnachten erinnert daran: Gott will im Menschen wohnen, in ihm geboren, von ihm ausgetragen werden. Johannes Scheffler, der am 25. Dezember 1624 in Breslau geborene und getaufte Arzt und Mystiker formulierte es so: Wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, so wärest du auf ewig noch verloren.