Fiktion und Realität: Wie gehen Literatur und Film mit Fakten um?
Ulrike Jensen, die für Jugendpädagogik in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zuständig ist, spricht im Interview über die Probleme bei der geschichtlich korrekten Darstellung in Film und Literatur.
Wie weit kann die Kunst Fakten für die künstlerische Darstellung verändern - und das vor allem im geschichtlichen Zusammenhang? Ein umstrittenes Beispiel dafür ist der populäre Roman "Der Junge im gestreiften Pyjama" von John Boyne, der 2008 auch verfilmt wurde.
Frau Jensen, Sie sind kein besonders großer Fan dieses Romans, richtig?
Ulrike Jensen: Nein, bin ich nicht.
Was sind dabei die problematischen Aspekte?
Jensen: Das ist ein klassischer Roman, der gut gemeint ist, der aber nicht funktioniert. Der Film und natürlich auch das Buch fokussieren auf den Sohn des Auschwitz-Kommandanten. Dieser freundet sich mit einem kleinen Häftlingsjungen an, dem kleinen Schmuel, und versucht gemeinsam mit Schmuel, dessen verschwundenes Familienmitglied im Lager zu finden, indem er sich durch den Zaun hindurch in das Lager hineingräbt und gemeinsam mit Schmuel und ganz vielen anderen Menschen in der Gaskammer endet.
Das Buch ist so geschrieben, dass der Leser, die Leserin sich ausschließlich auf den kleinen Bruno, den Sohn des Kommandanten, fokussiert, der ja zu Unrecht in der Gaskammer ist, während alle anderen dort zurecht sind. Das denkt man nicht bewusst, aber das ist die Botschaft, die vermittelt wird. Das ist in unserem Job als Menschen, die in einer Gedenkstätte arbeiten, absolut schrecklich. Das geht gar nicht.
Wie erleben Sie das, wenn Kinder und Jugendliche, die das Buch gelesen oder den Film gesehen haben, zu Ihnen kommen. Was ergeben sich dann für Gespräche?
Jensen: Das Problem ist in erster Linie, dass das Buch und auch der Film scheinbar im Unterricht verwendet werden, um zu zeigen, wie es im Lager war. So war es aber gar nicht. In dem Buch gibt es überhaupt nichts, was mit der Realität der Konzentrationslager zu tun hat. Ein kleiner Junge wie Schmuel, der ungefähr neun Jahre alt ist, hätte die Einlieferung in das Lager Auschwitz noch nicht mal überlebt. Er hätte auch nicht den ganzen Tag, wenn er überlebt hätte, am Zaun des Lagers herumsitzen können, um sich mit einem Jungen von draußen zu unterhalten. Er wird nicht beeinträchtigt von irgendwelchen Wachen, er erzählt sehr kindgerecht davon, dass es schrecklich ist im Lager, aber das hat mit der Realität nichts zu tun.
Die Jugendlichen, die in eine Gedenkstätte kommen, denken, dass das, was sie da gesehen haben, Realität ist, und abstrahieren nicht. Das Problem ist, wie das Buch eingesetzt wird, und gar nicht mal, dass es eingesetzt wird. In der Oberstufe kann man dieses Buch lesen und dann dekonstruieren. Was will das Buch uns sagen? Was soll es vermitteln? Aber als quasi-dokumentarisches Buch ist es überhaupt nicht geeignet. Das ist der Fehler, der meistens gemacht wird.
Das ist die Frage: Will so ein Roman oder Film dokumentarisch sein? Es gibt zum Beispiel auch jede Menge Filme über die NS-Zeit, die auf wahren Begebenheiten beruhen: "Schindlers Liste", "Der Pianist", "Der Passfälscher", und da wird jeder Filmemacher sagen, dass er den historischen Stoff gar nicht eins zu eins abbilden kann, weil er irgendwie zwei spannende, dramaturgisch sinnvolle Stunden Film daraus bauen muss. Wie ist das zu lösen?
Jensen: Ich glaube, das ist nicht zu lösen. Bei "Schindlers Liste" haben wir ganz viel mit Überlebenden gesprochen, die gesagt haben, das sei ein Film, der annähernd an das herankommt, was sie erlebt haben. Das ist ein großes Kompliment, denn man kann die Realität der Konzentrationslager nicht darstellen. Es ist nicht darstellbar. Deshalb geben wir immer den Tipp: Wenn man mit Jugendlichen eine Gedenkstätte besuchen möchte, dann sollte man auf Erinnerungen von Überlebenden zurückgreifen. Es gibt tausendfach Interviews mit KZ-Überlebenden, in denen sie von dem erzählen, was ihnen und ihrer Familie angetan worden ist. Das ist natürlich nicht "sexy", es ist kein Spielfilm, es ist keine Spannung, sondern das ist ein alter Mensch, der vor der Kamera sitzt und erzählt. Und trotzdem ist das das einzige, was meiner Meinung nach die Schrecken der Konzentrationslager rüberbringen kann.
Gilt das nur in dieser pädagogischen Arbeit, oder würden Sie noch weitergehen und sagen: Eigentlich sollte es solche Filme am besten gar nicht geben?
Jensen: Nein, das würde ich nicht sagen. Es gibt in jedem Genre furchtbar schlechte Filme, aber das ist nicht der Punkt. Sondern der Punkt ist, wenn sie als Wahrheit verkauft werden und sich nicht damit beschäftigt wird, dass es sich vielleicht um eine Fiktion handelt, die so nicht geschehen sein kann. So etwas kann man gerne machen. Aber sie werden explizit dafür eingesetzt, das Thema Nationalsozialismus und KZ in den Schulen zu lehren - und das hilft uns nicht.
Sie haben gesagt, man solle am besten auf dokumentarisches Material zurückgreifen. Haben Sie einen Film- oder einen Buchtipp für junge Menschen?
Jensen: Ja, das Buch heißt "Einmal" von Morris Gleitzman, ein Jugendbuch, was in ganz kurzen Sequenzen aus der Sicht eines jüdischen Jungen, der sich versteckt, die ganze brutale Wahrheit kindgerecht darstellt. Ein sehr dünnes Buch, das, soweit ich weiß, zeitgleich mit dem "Jungen im gestreiften Pyjama" herausgekommen und da untergegangen ist, weil es nicht diese dramatische Wucht hat, die "Der Junge im gestreiften Pyjama" hat. In meiner Ansicht ist es aber viel, viel, viel besser.
Das Gespräch führte Jan Wiedemann.