Premiere in Hamburg: Lina Beckmann verstört als "Die Abweichlerin"
Die Bücher von Tove Ditlevsen sind in Dänemark Schulstoff, in Deutschland ist die Autorin weniger bekannt. Nun hat "Die Abweichlerin" nach dem Roman "Vilhelms Zimmer" am Deutschen Schauspielhaus seine deutschsprachige Erstaufführung gefeiert.
"Ich bin so müde", sagt Lina Beckmann, alias Lise. "Ich geh' jetzt schlafen, gleich guck ich noch ein bisschen Fernsehen." So verabschiedet sich Lise am Ende vom Publikum, verabschiedet sich vom Leben. Packt eine Tasche für ihre letzte Reise. Lise, die Schriftstellerin, wird sich im Wald das Leben nehmen - sozial vereinsamt, tablettensüchtig, Einweisungen in die Psychiatrie.
Am Schluss des Abends sitzt man da, elektrisiert. Kein Husten im Saal, Nichts. Die Schauspielerin Lina Beckmann verkörpert Lise mit jeder Faser. So einen Theater-Moment erlebt man nur ganz selten, wie diese Besucherin bestätigt: "Es war zutiefst berührend, sensationell und auch irrsinnig komisch. Lina Beckmann hat eine Art, die ist von berührend bis absolut schrill."
Das Stück "Die Abweichlerin" spielt mit der Nähe zur Realität
Lise ist leicht zu verwechseln mit der realen Autorin Tove Ditlevsen. Denn Ditlevsen hat nur ein Jahr nach Erscheinen des Romans "Vilhelms Zimmer", der Vorlage für den Theaterabend, 1976 Suizid begangen. Dieser verstörende Theaterabend spielt mit der Nähe zur Realität, lässt die Wirklichkeit verschwimmen.
"Ich hab mir nie viel aus der Realität gemacht", sagt Lise. "Ich habe sie eher hingenommen. Ich bin versucht, ihr zu entkommen, wann immer sich mir die Gelegenheit dazu bot, indem ich träumte, schrieb oder Tabletten nahm". Ob betrunken am Küchentisch, ob albern mit ihrem Sohn Tom, oder die Erinnerung an den Ballett-Unterricht in der Kindheit. "Das ist die wirkliche Einsamkeit, dass man mit niemandem mehr über die Kindheit sprechen kann."
Lina Beckmann: Zentrum des brillanten Ensembles
Was das Stück so packend macht: Es zeigt ein Einzelschicksal, in allen Facetten, wie ein offenes Buch. Die Schauspieler und Schauspielerinnen sprechen von sich in der dritten Person, die Geschichte wird mehr erzählt als psychologisch nachempfunden. Regisseurin Karin Henkel lässt Lina Beckmann mit einer stummen zweiten Figur auftreten, wie ein Zwilling, das Gesicht verhüllt. Lise hat zwei Gesichter.
Als Schriftstellerin erleben wir Lise dabei, wie sie aus seitlichen Schubladen die Romanfiguren herauszieht, sie sozusagen vor unserem Auge erfindet, wie Lises skurrilen Untermieter Kurt, gespielt von Mirco Kreibich als fast kafkaesker Charakter, grell und komisch. Die Bühne ist ein offenes Gerüst aus Kammern und Zimmern. Das Ensemble trägt meistens Halbmasken, wirkt puppenhaft. Nur Lise zeigt ihr Gesicht, das sich immer mehr aufzulösen scheint. Wir sehen ihr beim Denken zu, dabei, wie ihr die Welt entgleitet. Lina Beckmann ist das Zentrum des brillanten Ensembles. Mit einer Ehrlichkeit, die sprachlos macht.
Premiere in Hamburg: Lina Beckmann verstört als "Die Abweichlerin"
"Die Abweichlerin" nach Tove Ditlevsens Roman "Vilhelms Zimmer" hat am Schauspielhaus seine deutschsprachige Erstaufführung gefeiert.
- Art:
- Bühne
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- Ort:
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Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Kirchenallee 39
20099 Hamburg
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