Anne-Sophie Mutter über Sofia Gubaidulina: "Eine Göttin"
Mit 93 Jahren ist die tatarische Komponistin Sofia Gubaidulina gestorben. Im Gespräch erinnert die Geigerin Anne-Sophie Mutter mit persönlichen Erinnerungen an die Kunst und das Schaffen der Musikerin.
Da wird eine der ganz großen Komponistinnen der Zeit gefragt, was sie als Klangschöpferin für die Welt tun könne und nach langem nachdenken, sagt sie: Sie sei nicht die Ärztin, sie sei der Schmerz. Nun ist Sofia Gubaidulina im Alter von 93 Jahren gestorben. Zuletzt hat sie zurückgezogen in Appen im Kreis Pinneberg in Schleswig-Holstein gelebt. Wir wollen an sie erinnern mit einer, die ihre Musik zu sehr vielen Menschen gebracht hat, mit der Geigerin Anne-Sophie Mutter.
Frau Mutter - 2007 haben sie ein zweites Violinkonzert bei ihr in Auftrag gegeben: "In Tempus Praesens". Da haben sie sich auch das erste Mal gesehen. Erinnern Sie sich noch gut an diese Begegnung?
Anne-Sophie Mutter: Ich habe Herzklopfen, wenn ich daran zurückdenke. Und ich bin wirklich tief erschüttert, dass wir diese wahnsinnig reine Seele verloren haben. Und es hat mich sehr bewegt, diese Antwort von Sofia, was sie denn ist für die Welt ist. Und tatsächlich ja: Sie ist der Schmerz. Dieses "In Tempus Praesens" handelt ja von Sofia. Sie manifestiert sich als die einzige Geige in der Partitur. Es ist eine Orchesterpartitur, die bei den Bratschen beginnt - es gibt keine einzige andere Geige auf der Bühne. Und Sofia steht gegen die Gesellschaft, und die Gesellschaft ist das Orchester. Es gibt in der Mitte dieses Werkes eine Kreuzigungsszene, die mir unglaublich nahe geht.
Sie war einfach ein Mensch, der eigentlich nicht auf dieser Erde leben konnte. Das irdische Leben war wie eine Durchgangsstation, hatte ich oft den Eindruck, eine Pilgerschaft. Ich fragte sie gleich am Anfang unserer Begegnung, wie sie denn diese vielen Jahre der künstlerischen, aber auch menschlichen Unterdrückung durchgemacht hat. Sie hat ja alles erlebt: die Stalinzeit, den Kalten Krieg, dann Gorbatschow, den Zusammenbruch der Sowjetunion. Sie hat sehr darunter gelitten, dass sie nicht gespielt wurde und dass sie teilweise auch nicht reisen durfte.
Sie sagte zu mir: "Ich habe einfach nach oben geschaut". Damit ist natürlich nicht die Decke des Raumes gemeint, sondern ihr unverbrüchlicher Glaube an Gott, der ihre Werke ja auch so existenziell zum Inhalt hatte. So viele ihrer anrührendsten Werke sind von diesem russisch-orthodoxen Glauben geprägt. "Die Johannespassion" und dann "Der Leidensweg Jesu" sind ja gigantische Werke. Und selbst dieses "In Tempus Praesens" ist ein einziges Mahnmal.
Sie war eine der Komponistinnen, die realistisch genug war, den menschlichen Makel in all seiner Schwäche zu sehen und uns als Wiederholungstäter zu erkennen. Aber die dann doch auch immer wieder den Weg wies, wie es denn auch sein könne, wenn wir zueinander finden, wenn wir zur Liebe finden, zum Miteinander.
Geboren in Tschistopol in Tatarstan. Dann ging es nach Kasan, dort hat sie studiert. Kann man sie da einer Linie, einer Schule zuordnen, oder ist es doch irgendwie eine ganz eigene Stimme, die sie klanglich gefunden hat?
Mutter: Ich glaube, es ist eine ganz eigene Stimme. Man merkt ihrer Musik auch immer an, dass sie darin die Freiheit gefunden hat, die im Außenleben nicht existierte, weil es so dieser Rückzug nach innen war. In dieser absoluten Freiheit ihrer Kunst hat sie ja auch eine Lebensfreiheit gefunden. Ganz interessant ist auch ihre Erklärung, wie sie komponiert hat. Ich habe sie gefragt, wie "In Tempus Praesens" denn entstand. Und sie erzählte mir von einem Urknall-artigen - und das muss für alle Werke so gewesen sein - Zustand, indem sie eiligst versucht, all das, was sie hört, auf Papier festzuhalten. Sie war ganz betrübt darüber, dass sie in vielen Fällen für das, was sie akustisch wahrnimmt, keine Entsprechung im existierenden Instrumentarium findet, sodass einiges einfach ungesagt bleiben muss. Und das, was von ihr zu Papier gebracht wird, ist wirklich nur ein grauer Schatten dessen, was eben in ihr wühlt und tobt, während sie diese Botschaft niederschreibt.
Das "nach oben schauen", so haben sie es beschrieben, das Transzendente, das hat sie gemeinsam mit einem anderen, ganz großen der Musik, mit Johann Sebastian Bach. So sagte sie einmal: "Jeden Tag habe ich eine Korrespondenz mit Bach." Wie hat man ihn in ihrer Musik wiederfinden können?
Mutter: Das "Offertorium” war, ehrlich gesagt, das erste Werk von ihr, was ich wahrgenommen habe - zu meiner Schande erst irgendwann Mitte/Ende der 80er-Jahre. Gidon Kremer hat das ja unvergleichlich gespielt. Viel in ihren Werken liegt Bach zugrunde. Das "Offertorium" ist natürlich das Paradebeispiel, denn es zitiert ja das musikalische Opfer von Bach - nur im Umkehrgang. Ich glaube, sie hat Bachs Dienst an Gott als Grundlage ihres kompositorischen Schaffens genommen, mit eben dem Blick nach oben und mit einer Aktualität. Man wagt gar nicht daran zu denken, was sie über die politischen Veränderungen der letzten Jahre gedacht haben mag. Für mich war sie immer eine Göttin, und ich habe sie als solche auch mit privaten Fragen oder auch politischen Fragen niemals bestürmt. Ich habe es einfach nicht über mich gebracht.
Wann haben Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen?
Mutter: Das liegt viele Jahre zurück. Ich habe mich um die Uraufführung des Violinkonzertes sechs oder sieben Jahre intensiv bemüht, das Werk um die Welt zu tragen. Und es ist mir tatsächlich gelungen, es in den USA, in Fernost und weiträumig in Europa, aber auch in Russland, in Kasan, in Samara und in Moskau aufzuführen - da war sie dann auch 2010 dabei.
Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.
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