Nachgedacht: Die Kraft des Raumes
Union und SPD haben sondiert und gehen in die nächste Runde: Koalitionsgespräche. Sie sitzen und beraten über die künftige Bundespolitik. Wichtig für eine entsprechende Atmosphäre sind auch die Räume, findet Claudia Christophersen in ihrer Kolumne.
Es gab Fotos vom Unions-Tisch: Sechs Männer, fotogrinsend, und jeder fragte sich: Wo sind die Frauen? Solche Bilder gehen nicht, auch die Union hat das gemerkt. Also sitzen hier jetzt Frauen am Tisch: Silvia Breher, Karin Prien, Christina Stumpp. Anderes Bild bei den Sondierungsgesprächen zwischen Union und SPD: ein Tisch mit weißem Tischtuch und Blumen dekoriert. Vier Männer, eine Frau, die scheinbar Mühe hat, zu hören oder überhaupt sich aktiv ins Gespräch zu bringen. Kam gleich die Frage: Wird SPD-Chefin Saskia Esken von den Sondierungsmännern an den Rand gedrängt? Damit sich dieser Eindruck nicht verfestigte, beeilte sich Frau Esken und erklärte, dass sie ein Ohrenproblem hat und aus freien Stücken immer links außen sitzt. Das ist nicht auf allen Fotos der Fall, aber wir wollen hier nicht spitzfindig sein. Wahrscheinlich sind das einfach blöde Bilder, aufgenommen in ungünstigen Momenten. Kleiner Schönheitsfehler im großen politischen Kino.
Die Räume der Macht
Ich komme zurück auf das, was mich hier eigentlich interessiert: Der Raum. Wie werden die vier Wände genutzt, nicht nur medienwirksam für Kameras und Fotos, sondern von den Einzelnen, die atmen, denken und reden. Wie und wo können sie debattieren, streiten, sich verständigen auf das, was künftig politisch gestaltet werden soll? In den Räumen der Macht findet alles statt: Hier werden Argumente ausgetauscht, ausgehalten, Gegenargumente entwickelt, Einigungen werden ausgehandelt, Konsens genannt, Kompromisse mobilisiert.
Kompromisse sind gefährlich, aber notwendig
Gerade die Kompromisse sind so kompliziert, sie kosten Kraft, sie fordern. Ein echter, nicht fauler Kompromiss verlangt etwas, er will, dass man den Standpunkt prüft und womöglich abrückt von etwas, das einem lieb und teuer ist, etwas, von dem man doch überzeugt ist. Kompromisse können gefährlich sein, sind risikobehaftet. Doch ohne sie geht nichts, ist das Leben in einer pluralen Gesellschaft sinnlos, unmöglich. Plumpe und unqualifizierte Spontanäußerungen stören die Vibrationen, vergiften die ohnehin hochangespannte, drucklastige Atmosphäre.
Sich auf das Wichtige konzentrieren
Die wahrnehmungssensible Schauspielerin Sandra Hüller kennt die Kraft des Raumes, aktuell zu sehen im Filmporträt "Sandra Hüllers Geheimnis". Die Wucht, die in ihr steckt, kann sie immer kontrollieren. Sie lässt ihren Raum, die Bühne, schweben, lotet die Sphären der Aura aus. Ihre Worte, ihre Bewegungen flirren durch das Theater. Ein enormer Konzentrationsakt durchfließt die Schauspielerin. Wie macht und schafft sie das? Regisseur Johan Simons hat Sandra Hüller bei der Bochumer Hamlet-Inszenierung beobachtet. In der Theaterpause verlässt sie nicht die Bühne. Der Vorhang neigt sich, sie bleibt stehen, allein, bis der zweite Teil beginnt. Sandra Hüller schweigt. Sie steht "klug", sagt Simons. Sie stellt sich ans äußerste Eck, rührt sich nicht, kostet die Stille, die Leere aus. Sandra Hüller erdet sich in diesen Momenten. Keine Ablenkung. Sie bleibt bei sich, bei ihrer Rolle, beim Stück, ohne Pause. Weil sie den Spannungsbogen halten will.
Diese Konzentration, die Momenthaftigkeit, die Fähigkeit, sich ganz auf das, was gerade wichtig ist, auf das Wesentliche zu fokussieren, die wünscht man allen Akteuren auch in der Politik, erst recht dem künftigen Kanzler. Er muss im Raum die Spannung halten, um die komplizierten Entscheidungsfäden nicht aus den Händen zu verlieren.
