Komponistin Lisa Streich: "Extreme interessieren mich auf allen Ebenen"
Die schwedische Komponistin Lisa Streich ist in der Nähe von Hamburg aufgewachsen. Im Interview spricht sie über ihr Stück "Flügel", das im Rahmen des Festivals "Elbphilharmonie Visions" aufgeführt wurde.
Mit dem Festival "Elbphilharmonie Visions" widmet sich der NDR in Kooperation mit der Elbphilharmonie bis zum 12. Februar der zeitgenössischen Musik. Zum Auftakt spielte das NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung von Chefdirigent Alan Gilbert ein großes Oratorium zum Thema Klimawandel des Australiers Brett Dean. Gleich zu Beginn des Eröffnungskonzerts erklang das Stück "Flügel" der Schwedin Lisa Streich, Gewinnerin des erstmals vergebenen Claussen-Simon-Kompositionspreises.
Frau Streich, was ist das für ein Stück?
Lisa Streich: Das ist ein Stück, das sich in Gedanken mit Flügeln auseinandersetzt und das Orchester nicht als Orchester betrachtet, sondern als ein Gebilde, das aus einer Mitte besteht und Flügeln zur Rechten und zur Linken. Beim Schreiben war das mein roter Faden: Was machen Flügel, damit sie schweben können, damit sie fliegen können? Sie müssen sich immer wieder anspannen und loslassen. Es gibt verschiedene Direktionen durch das Orchester, und es gibt verschiedene Kontrapunkte, die sich, auch wie Flügel, durch das Orchester spannen, durch Solisten, die aber weit weg voneinander sitzen.
Spiegelt sich das auch in der Besetzung oder in der Aufstellung des Orchesters wider?
Streich: Das Orchester ist traditionell aufgestellt, aber ich benutze mal die rechte und mal die linke Seite. Dadurch ergeben sich zwei kleine Orchester, die teilweise getrennt spielen, sehr schnell im Wechsel. Teilweise erklingen beide Flügel auf einmal, und dann wird es richtig laut.
Wie verläuft bei einer Uraufführung die Zusammenarbeit mit dem Orchester, in diesem Fall mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester? Wie viel Einfluss haben Orchester und Dirigent? Anders gefragt: Haben Sie eine ganz exakte Vorstellung, wie Sie Ihr Stück interpretiert haben wollen, oder haben die Interpreten ein bisschen Freiraum?
Streich: Der Interpret ist, genauso wie bei der klassischen Musik, essenziell. Das ist mir auch ganz wichtig, dass Dirigenten auch eine Interpretation haben. Ich habe ja meine Perspektive, und wenn dann noch jemand eine andere Perspektive draufstülpt, dann kriegt das Werk noch mal einen anderen Schatten. Das interessiert mich sehr und das ist auch sehr spannend, wenn man die gleichen Stücke von verschiedenen Interpreten hört. Das kann so verschieden sein, und dann fängt die Musik an zu leben. Jeder Einzelne ist wichtig.
Ich kann mir vorstellen, dass es auch interessant ist zu erleben, was noch in dem eigenen Stück drinsteckt, das einem gar nicht so bewusst war.
Streich: Ja, manchmal gibt es Stellen, die Dirigenten ausarbeiten, die man so gar nicht gedacht hatte. Aber man kann sie durchaus so lesen - und manchmal ist das sogar besser. Einmal konnte ich nicht zu dem Konzert und auch nicht zu den Proben kommen, und das war eigentlich richtig gut. (lacht)
Was interessiert Sie besonders beim Komponieren? Ich habe ein Interview mit Ihnen gehört, in dem Sie sagen, Sie würden auch Extreme interessieren. Spielt das in Ihre musikalische Arbeit mit rein?
Streich: Ja, Extreme interessieren mich auf allen Ebenen. Ich hatte mal eine Lehrerin, die sagte: "Du kannst machen, was du willst, aber es muss extrem sein." Das ist ziemlich stark hängen geblieben. Bei mir geht es stark um Ausdrücke - je extremer man die machen kann, desto direkter werden sie. Damit man als Zuhörer dieses Wunder Musik spüren kann, benutze ich im Moment Extreme und versuche, den Funken zu finden.
Welche Rolle kann zeitgenössische Musik in unserer Gesellschaft spielen? Ihr Stück erklingt ja im Rahmen eines Festivals, dass diese Musik wieder in den Fokus stellt.
Streich: Musik hat die Gabe, dass man sich für einen Moment nicht allein fühlen muss. Man kann sich jemandem sehr nah fühlen, oder man kann Dinge auf einmal verstehen, wenn man Musik hört. Sie öffnet Horizonte. Ich denke, Alte Musik kann das auch, denn unser Leben wiederholt sich, egal in welchem Jahrhundert wir leben. Aber es gibt Dinge, die erleben wir nur heute, und die müssen auch ausgedrückt und gespürt werden können - nicht alleine, sondern zusammen als Gesellschaft, die das zusammen erlebt. Manchmal ist es im Alltag schwierig: Man macht so Seins mit seiner Familie und seinen Freunden, aber das Ganze zu spüren, dass wir alle zusammen heute leben, dass wir das Beste draus machen müssen und neue Ideen haben müssen - dafür ist die Neue Musik da.
Trotzdem haben Menschen Berührungsschwierigkeiten. Das merken wir auch bei unserem Radioprogramm: Da spielen wir tagsüber kaum zeitgenössische Musik. Würde es vielleicht helfen, zeitgenössische Musik gar nicht als solche zu labeln? Zeitgenössische Musik ist dann einfach Musik, die in unserer Zeit komponiert wird, egal aus welchem Genre.
Streich: Ja, unbedingt. Jede Grenze ist schlecht.
Das Interview führte Eva Schramm.