Margot Käßmann: "Wir haben eine Verpflichtung, zu deeskalieren"
Im "Manifest für den Frieden" kritisieren Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht die Waffenlieferungen im Ukraine-Krieg und rufen zu Friedensverhandlungen auf. Neben vielen Kulturschaffenden hat auch Ex-Bischöfin Margot Käßmann die Petition unterschrieben.
Frau Käßmann, was hat Sie bewogen, dieses Manifest zu unterschreiben?
Margot Käßmann: Mir geht es so, dass ich immer bedrückter bin, dass nur noch militärische Lösungen diskutiert werden: noch mehr Waffen, erst Verteidigungspanzer, jetzt Angriffspanzer, wahrscheinlich noch Flugzeuge, U-Boote, Kriegsschiffe. Ich denke, das ist alles eine Eskalation - und ich wünsche mir Deeskalation, Friedensverhandlungen, einen Stopp dieses Tötens.
Haben Sie bei den Namen Wagenknecht und Schwarzer ein bisschen gezögert?
Käßmann: Natürlich sind das beides Frauen, die durchaus umstritten sind in unserem Land. Aber ich finde, es ist besser, dass es streitbare Menschen gibt als lauter Duckmäuser.
Wie könnte denn Deeskalation - zumindest in Ihrer Wunschvorstellung - im Moment aussehen?
Käßmann: Es ist klar, dass die Friedensbewegung auch nicht die Lösung hat. Aber auch diejenigen, die immer mehr Waffen liefern, haben auch nicht die Lösung. Wenn jetzt von Sieg geredet wird, von Tapferkeit, von Heldentum und Blutzoll, der erhöht werden muss, dann erschreckt mich das. Für mich wäre der allererste Punkt zu sagen: Wir müssen ganz schnell zu einem Waffenstillstand kommen, auch um der Menschen in der Ukraine Willen.
Ich erinnere mich noch gut: In den 90er-Jahren, da stand Erhard Eppler, der Pazifist, der Friedensbewegte aus der evangelischen Kirche, linker Flügel der SPD, vor dem Deutschen Bundestag und hat im Angesicht der Gräueltaten in Ex-Jugoslawien gesagt: Jetzt können wir nicht anders - und hat für den deutschen Einsatz dort gestimmt. Ist das jetzt nicht eine ähnliche Situation?
Käßmann: Es ist sicher eine ähnliche Situation, weil die Emotionen genauso hoch kochen mit Blick auf die Bilder von vergewaltigten Frauen, von Folteropfern. Das sehen wir ja in jedem Krieg, Syrien, Jemen, überall ist der Krieg eine Büchse der Pandora. Die wird geöffnet und dann wird Barbarei betrieben. Das ist grauenvoll, das ist für mich gar keine Frage. Aber ich bin schon mein ganzes Leben lang Pazifistin und habe das erste Mal mit 16 Jahren in den USA mit fünf anderen gegen den Vietnamkrieg demonstriert. Wir müssen als Pazifisten sagen, dass Abrüstung der einzige Weg ist, diese Erde langfristig zu sichern für die Generationen, die nach uns kommen.
Olaf Scholz hat an diesem langen Tisch gesessen, Emmanuel Macron, auch Gerhard Schröder hat Putin getroffen. Die sind alle zurückgekommen und haben gesagt, dass es nichts zu verhandeln gibt.
Käßmann: Das ist ja die Frage. Verhandlungen finden ja statt, das wissen wir. Im Hintergrund hat es immer wieder Versuche gegeben. Es wird auch über Gefangenenaustausch und über Getreideexporte verhandelt. Es gibt also Formen der Verhandlung. Meine Frage ist: Wird in der Öffentlichkeit allein darüber geredet, welche und wie viele Waffen geliefert werden? Oder haben wir überhaupt noch Stimmen, die sagen: Wir brauchen eine Deeskalation, wir wollen nicht Teil dieses Krieges werden, wir wollen alles tun, damit es hier keine Rutschbahn Richtung Dritter Weltkrieg gibt. Alle müssen doch ein Interesse haben, diese Kriegshandlungen so schnell wie möglich zu beenden. Das ist ein Angriffskrieg Russlands, das ist gar keine Frage, Russland ist schuld an diesem Krieg - aber das so schnell wie möglich zu beenden, dafür müssten doch alle diplomatischen Kräfte auf der ganzen Welt jetzt zusammenwirken.
Ich könnte auch einen Großteil dieses Manifest sofort unterschreiben. Aber konkret fehlt natürlich die Idee. Welches Entgegenkommen könnte denn da sein? Das hat man ja 2014 versucht, mit dem Minsker Abkommen - und was ist daraus geworden?
Käßmann: Nun ist es ja so, dass immer erst einmal ein Waffenstillstand da sein muss, damit Verhandlungen stattfinden. Ich als Deutsche werde überhaupt nichts sagen können, was die Ukraine zuzugestehen hat oder wie Verhandlungen stattfinden. Aber als Deutsche kann ich sagen, auch aus unserer Geschichte heraus, dass wir eine Verpflichtung haben, zu deeskalieren, und nicht Kriege durch Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete zu stärken, was wir jahrzehntelang abgelehnt haben.
Die österreichische Soziologin Kristina Stöckl veröffentlicht im Moment sehr interessante Texte über "moralkonservative Werte als Kriegstreiber" und darüber, wie russische Propaganda das "verweichlichte" Europa dastehen lässt. Wenn man diese Kriegsgründe hört und sich dann über mögliche Verhandlungen Gedanken macht, wird einem doch ganz kalt, oder?
Käßmann: Dieser Begriff "verweichlicht" - und dagegen steht dann "Tapferkeit", "Heldentum" oder "Blutzoll", der erhöht werden muss, um die Verhandlungsposition zu stärken? Dann nennen Sie mich gerne verweichlicht. Das wird ja gerne alles diffamiert, was jetzt pazifistisch daherkommt. Aber mich beeindrucken diese Begriffe wahrhaftig nicht.
Da haben wir uns noch nicht richtig verstanden: Aus Sicht der russischen Propaganda geht es darum, dass es Rechte für homosexuelle Menschen in Europa gibt, dass es Rechte von Frauen in Europa gibt und dass es Gleichstellung gibt. Und das ist ein Kriegsgrund - das kann man nachweisen. Da frage ich mich: Wie könnten solche Werte Gegenstand von Verhandlungen sein?
Käßmann: Das ist doch seit Jahren bekannt, übrigens leider auch bei der russisch-orthodoxen Kirche. Als ich Ratsvorsitzende der EKD wurde, hatte sie die Beziehungen zur Evangelischen Kirche in Deutschland abgebrochen, weil eine Frau einer Kirche nicht vorstehen kann. Das wissen wir seit mindestens 20 Jahren. Und dass es da eine Abwehr gibt gegenüber westlichen Werten, da können wir sagen: Wir stehen zu diesen Werten. Wir sind nicht verweichlicht, sondern wir haben eine Utopie davon, dass Menschen unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlicher Orientierung gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Warum sagen wir das nicht selbstbewusst? Das greift mich nicht an, wenn irgendwelche russischen Patriarchen das sagen.
Und den queeren Menschen in der Ukraine sagen wir dann: Ihr habt leider Pech, ihr gehört nicht in unseren Club?
Käßmann: Und Sie sagen denen: Wir werden euch noch mehr Panzer und Waffen liefern, und es wird noch mehr Tote geben?
Das ist das Dilemma. Was hoffen Sie?
Käßmann: Ich finde erstmal gut, dass wir jetzt bei dem Punkt sind zu sagen: Das ist das Dilemma. Weil ich persönlich auch sage, dass jeder schuldig werden kann. Ich weiß, dass ich schuldig werden kann, wenn ich gegen Waffenlieferungen plädiere. Aber ich wünschte mir in unserer öffentlichen Debatte, dass auch mal gesagt würde, dass es nicht nur so ist, dass unsere Waffen Leben schützen, sondern dass unsere Waffen auch töten. Dieses Dilemma sollten wir erst mal anerkennen und dann fragen: Was können wir alle zusammen tun, damit diese Kriegssituation ein Ende findet, vor allen Dingen erst mal für die Menschen in der Ukraine?
Das Interview führte Mischa Kreiskott.