Helmut Schmidt: Kühler Kopf und Krisenmanager

Stand: 23.12.2023 23:59 Uhr

Sturmflut in Hamburg, Wirtschaftskrise, RAF-Terror, Kalter Krieg: In Zeiten großer Herausforderungen erlangte SPD-Politiker Helmut Schmidt als Krisenmanager Ansehen im In- und Ausland. Am 23. Dezember 1918 wurde der Altkanzler geboren.

Der gebürtige Hamburger war für viele der Inbegriff eines Staatsmannes mit Weitblick. Sein pragmatischer Politikansatz verschaffte dem Sozialdemokraten Respekt weit über die Parteigrenzen hinaus, mit seiner Abneigung gegen Theoretiker ("Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen") eckte er jedoch häufig in seiner eigenen Partei an. Das Wort des fünften Kanzlers der Bundesrepublik hatte großes Gewicht - vor allem in Fragen der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik. In der Bevölkerung genoss Schmidt als Elder Statesman und moralische Autorität bis zu seinem Tod am 10. November 2015 hohes Ansehen.

Eigentlich wollte er Architekt werden

Kinderfoto von Helmut Schmidt © Helmut Schmidt-Archiv, Hamburg/Sven Simon
Als ältester von zwei Söhnen wächst Helmut Schmidt in Hamburg-Barmbek auf.

Geboren wird Helmut Schmidt am 23. Dezember 1918 in Hamburg-Barmbek als Sohn eines Studienrats. Nach dem Abitur 1937 an der Lichtwark-Schule in Hamburg will er eigentlich Städtebauer oder Architekt werden. Wie bei vielen Männern seiner Generation macht der Zweite Weltkrieg den persönlichen Plänen jedoch einen Strich durch die Rechnung.

Während des Krieges kämpft Schmidt zuerst an der Ostfront, ab 1944 an der Westfront. Das Kriegsende erlebt er in britischer Kriegsgefangenschaft, die jedoch nur kurze Zeit dauert. 1945 beginnt Helmut Schmidt in Hamburg das Studium der Staatswissenschaften und der Volkswirtschaft, das er 1949 als Diplom-Volkswirt abschließt. Schon während des Studiums engagiert er sich politisch. 1946 wird Schmidt Mitglied der SPD, ein Jahr danach Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS).

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Helmut und Loki Schmidt als junges Ehepaar
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Die junge Familie Schmidt

Loki und Helmut Schmidt heiraten noch während des Krieges. Mit Tochter Susanne ziehen sie nach Othmarschen. 1 Min

68 Jahre mit "Loki"

1942 heiratet Helmut Schmidt seine Freundin aus Kindertagen: Hannelore, genannt Loki. Aus der Ehe gehen zwei Kinder hervor. Der behindert geborene Sohn Helmut Walter stirbt noch vor seinem ersten Geburtstag im Februar 1945. Tochter Susanne, die später als Wirtschaftsjournalistin in London lebt, wird 1947 geboren. Das Ehepaar Schmidt verlebt 68 gemeinsame Jahre - bis Loki Schmidt im Oktober 2010 stirbt. Nach ihrem Tod findet Helmut Schmidt in seiner langjährigen Mitarbeiterin Ruth Loah eine neue Partnerin.

Verteidigungsexperte im Bundestag und Strauß-Kritiker

1953 wird Helmut Schmidt erstmals für den Wahlkreis Hamburg-Nord in den Bundestag gewählt. Vier Jahre danach gehört er dem Fraktionsvorstand seiner Partei an. Schmidt konzentriert sich damals auf die Verteidigungspolitik und wird zu einem der schärfsten Kritiker des damaligen Bundesverteidigungsministers Franz Josef Strauß (CSU). Zur Zeit der Rede-Duelle des rhetorisch begabten Sozialdemokraten mit Vertretern der Adenauer-Regierung entsteht auch sein Beiname "Schmidt-Schnauze". Gegen Ende der 50er-Jahre ist der SPD-Verteidigungsexperte ein vehementer Gegner der atomaren Bewaffnung der Bundeswehr.

Als Innensenator der "Macher" in der Sturmflut

Innensenator Helmut Schmidt verleiht 1962 Dankmedaillen an Soldaten für ihren Einsatz bei der Sturmflut in Hamburg. © dpa/picture alliance
Schmidt bat bei der Flutkatastrophe auch die Bundeswehr um Hilfe.

1961 wechselt Helmut Schmidt als Innensenator in seine Heimatstadt Hamburg. Während der Sturmflut im Februar 1962 erwirbt er sich erstmals bundesweit Ansehen als "Macher" und Krisenmanager. Energisch und umsichtig koordiniert er die Hilfsaktionen. Mehr als 20.000 Helfer - darunter auch viele Bundeswehrsoldaten - kämpfen in einem Wettlauf gegen die Zeit um das Leben der verzweifelten Menschen in der Hansestadt.

Zum Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Bundestag

Bei der Bundestagswahl 1965 erhält Schmidt erneut ein Mandat für den Bundestag. Die CDU unter Ludwig Erhard gewinnt die Wahl. Nach der Regierungskrise 1966, aus der die Große Koalition unter Kurt Georg Kiesinger (CDU) hervorgeht, und dem Tod des SPD-Fraktionsvorsitzenden Fritz Erler, übernimmt Schmidt von 1967 bis 1969 den Vorsitz der SPD-Fraktion im Bundestag.

VIDEO: Im Gespräch: Helmut Schmidt (16 Min)

Schmidts wird zum zweiten Mann hinter Willy Brandt

Nach dem Wahlsieg der SPD bei der Bundestagswahl 1969 holt Bundeskanzler Willy Brandt Schmidt, der für den Wahlkreis Hamburg-Bergedorf im Parlament sitzt, als Verteidigungsminister in das Kabinett der neuen SPD/FDP-Koalition. In seiner Amtszeit wird der Grundwehrdienst von 18 auf 15 Monate verkürzt und die Gründung der Bundeswehr-Universitäten in Hamburg und München beschlossen. In den folgenden Jahren entwickelt sich Schmidt innerhalb des Kabinetts zum zweiten Mann hinter Brandt. Mit SPD-Fraktionschef Herbert Wehner und Brandt bildet er ein Dreigespann, das - bei allen Auseinandersetzungen untereinander - die Partei prägt und lenkt.

Nach dem Rücktritt von Karl Schiller übernimmt Schmidt 1972 das Amt des Finanz- und Wirtschaftsministers. Dieses "Superministerium" wird nach der Bundestagswahl 1972 allerdings wieder geteilt. Die FDP stellt fortan den Wirtschaftsminister, Schmidt führt weiterhin das Finanzministerium.

1974 wird Helmut Schmidt Bundeskanzler

Die zweite Amtszeit von Bundeskanzler Willy Brandt endet im Mai 1974 mit dessen Rücktritt, ausgelöst durch die Enttarnung des DDR-Spions Günter Guillaume. Sein Nachfolger wird Helmut Schmidt, der sich damals erst in letzter Minute durchgerungen haben soll, die Regierungsverantwortung als fünfter Kanzler der Bundesrepublik zu übernehmen.

Die ersten Jahre seiner Regierungszeit sind geprägt von einer weltweiten Rezession, die auch an Deutschland nicht spurlos vorübergeht. Allerdings übersteht die Bundesrepublik die Ölkrise unter Schmidt besser als die meisten anderen Industriestaaten. Im Ausland ist der Kanzler dafür hoch angesehen, in Deutschland muss er sich von der CDU/CSU-Opposition vorwerfen lassen, die Wirtschaftskrise sei hausgemacht.

RAF-Terror erschüttert 1977 das Land

Bundeskanzler Helmut Schmidt bei einer Fernseherklärung zur Schleyer-Entführung 1977. ©  picture-alliance / dpa
Schmidt weigerte sich im "heißen Herbst", auf die Forderungen der Terroristen einzugehen.

Innenpolitisch die größte Herausforderung seiner Amtszeit ist der Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) im sogenannten Deutschen Herbst. 1977 fallen Generalbundesanwalt Siegfried Buback und der Bankier Jürgen Ponto RAF-Anschlägen zum Opfer. Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wird entführt. Gleichzeitig mit der Entführung Schleyers haben Terroristen die Lufthansa-Maschine "Landshut" gekapert und fordern die Freilassung inhaftierter Gesinnungsgenossen. Eine Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes, die GSG 9, befreit die Insassen der Maschine schließlich in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Einen Tag später findet die Polizei die Leiche Schleyers im Elsass.

Schmidt übernimmt die politische Verantwortung für den Tod Schleyers. Während der Entführung hatte er immer wieder erklärt, dass sich der Staat nicht erpressen lassen dürfe. Später sagt Schmidt, er wäre noch in der Nacht zurückgetreten, wenn die Befreiung der Geiseln in Mogadischu fehlgeschlagen wäre.

Kalter Krieg: Streit um NATO-Doppelbeschluss

In der Außenpolitik setzt Helmut Schmidt auf ein entschlossenes Auftreten gegenüber dem Warschauer Pakt. So erreicht Schmidt bei einem Treffen mit US-Präsident Jimmy Carter, Frankreichs Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing und dem britischen Premierminister James Callaghan die politische Entscheidung zum NATO-Doppelbeschluss. Demnach sollen atomare Mittelstreckenraketen in Europa stationiert werden, falls die Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion scheitern. Der NATO-Doppelbeschluss ist in der Bevölkerung und vor allem in Schmidts eigener Partei heftig umstritten.

Wegbereiter für den Euro

Gemeinsam mit Giscard, mit dem ihn eine persönliche Freundschaft verbindet, verbessert Schmidt damals die deutsch-französischen Beziehungen und vertieft die europäische Integration. Auch die wirtschaftspolitisch bedeutendste Maßnahme seiner Regierungszeit erfolgt in Zusammenarbeit mit Giscard: die Einführung des Europäischen Währungssystems, aus dem später der Euro hervorgeht. Auf eine Idee Schmidts und Giscards geht 1975 auch der erste Weltwirtschaftsgipfel zurück, der Vorgänger der heutigen G8-Treffen. Bis zuletzt ist Schmidt ein glühender Verfechter der Europäischen Union. Er warnt vor einer schrumpfenden Erkenntnis, dass die europäische Integration zu den wichtigsten Interessen der Bundesrepublik gehöre - und vor einer Renationalisierung.

Konstruktives Misstrauensvotum stürzt Schmidt 1982

Helmut Schmidt gratuliert am 1. Oktober 1982 Helmut Kohl im Bonner Bundestag zu dessen Wahl zum Bundeskanzler. © dpa Foto: Jörg Schmitt
1982 löst Helmut Kohl Helmut Schmidt als Bundeskanzler ab.

1982 scheitert die von Schmidt geführte sozialliberale Koalition, vor allem an Differenzen in der Wirtschaftspolitik. Am 17. September 1982 treten sämtliche FDP-Bundesminister zurück. Schmidt führt die Regierungsgeschäfte für kurze Zeit ohne Mehrheit im Bundestag weiter. Am 1. Oktober 1982 wird er mit den Stimmen von CDU/CSU und der Mehrheit der FDP-Fraktion durch ein konstruktives Misstrauensvotum abgewählt. Helmut Kohl (CDU) wird sein Nachfolger als Bundeskanzler.

Helmut Schmidts neues Wirken als Herausgeber der "Zeit"

Auch als Altkanzler prägt Schmidt das Land. Bereits am 20. Dezember 1983 wird er Ehrenbürger von Hamburg sowie von Bonn. Ab 1983 ist er auch einer der Herausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit". Für sein publizistisches Lebenswerk wird er 2010 mit dem Henri-Nannen-Preis geehrt. In zahlreichen Vorträgen, Interviews und Artikeln mischt er sich weiterhin in die Tagespolitik ein und vertritt auch unpopuläre Meinungen. So befürwortet der Kettenraucher die friedliche Nutzung der Kernenergie, beklagt die übermäßige deutsche "Regulierungswut" und bezeichnet die multikulturelle Gesellschaft als eine "Illusion von Intellektuellen". Die Debatte um die globale Erwärmung nennt er "Hysterie".

"Millennium-Bambi" für "politisches Gewissen der Deutschen"

Helmut Schmidt (SPD) spricht 2011 bei der Verleihung des Medienpreises "Bambi". © dpa Foto: Michael Kappeler
Mit dem "Millennium-Bambi" bekommt Helmut Schmidt 2011 eine Würdigung für sein Lebenswerk.

Für sein Lebenswerk wird Schmidt Mitte November 2011 mit dem "Millennium-Bambi" des Burda-Verlags ausgezeichnet. "Der Altkanzler verfügt über einen messerscharfen Verstand und eine unbeirrbare Moral, die viele heute bei Politikern vermissen", heißt es in der Begründung der Jury. Er werde "als das politische Gewissen der Deutschen" gewürdigt. Minutenlang erheben sich die Gäste bei der Gala in Wiesbaden von ihren Plätzen und applaudieren dem Altkanzler. Der Sozialdemokrat wiederum ruft dazu auf, die friedliche Zusammenarbeit der Nationen zu pflegen: "Dies bleibt der entscheidend wichtige Teil aller unserer Pflichten."

10. November 2015: Schmidt stirbt in Hamburg

Der mit einer Flagge bedeckte Sarg des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt wird nach dem Staatsakt am 23. November 2015 aus der St. Michaeliskirche in Hamburg getragen. © dpa Foto: Christian Charisius
1.800 Gäste nahmen beim Staatsakt Abschied vom Alt-Kanzler.

Helmut Schmidt stirbt am 10. November 2015 im Alter von 96 Jahren in seinem Haus im Hamburger Stadtteil Langenhorn. Knapp zwei Wochen nach seinem Tod nehmen Spitzen von Staat und Gesellschaft in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis Abschied vom ehemaligen Bundeskanzler. 1.800 geladene Gäste aus dem In- und Ausland sind für den Staatsakt nach Hamburg gereist. Bei einem anschließenden Trauerzug durch die Stadt erweisen Tausende Menschen dem Hamburger die letzte Ehre. Seine Urne wird im Familiengrab auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf beigesetzt, wo auch seine Frau Loki und seine Eltern begraben sind.

Flughafen nach Helmut Schmidt benannt

Schild "Welcome to Hamburg Airport Helmut Schmidt" © dpa Foto: Daniel Reinhardt
Zu Ehren des Altkanzlers wird 2016 der Hamburger Flughafen nach Schmidt benannt.

Dem Alt-Kanzler zu Ehren wird 2016 der Hamburger Flughafen in Hamburg Airport Helmut Schmidt umbenannt. Das ehemalige Wohnhaus der Schmidts in Hamburg-Langenhorn beherbergt das Helmut-Schmidt-Archiv, das Wissenschaftlern und Interessierten offensteht.

Bundesstiftung erinnert an den Altkanzler

Seit 2017 widmet sich eine vom Bundestag eingerichtete Politikergedenkstiftung der Erinnerung an Helmut Schmidt. Sie hat ihren Sitz im Kattrepel 10 neben dem "Zeit"-Verlagshaus.

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Dieses Thema im Programm:

NDR 90,3 | Kulturjournal | 01.10.2020 | 19:00 Uhr

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