Die Sturmflut von 1962
Am 17. Februar 1962, einem Sonnabend, klingelt um 23.30 Uhr das Telefon in meiner Junggesellenklause in der Fruchtallee in Hamburg-Eimsbüttel. Das kann doch nicht wahr sein! "Nun werd' schon endlich wach", sagt Magda Seifert, unsere Disponentin beim NDR (ich glaube, sie ist sogar ein bisschen der Chef der Kameraleute). "In den Nachrichten reden sie von einer bevorstehenden Flutkatastrophe. Also mach dich auf nach Lokstedt. Dort wartet Rolf Hartung, fahrt an die Küste nach Husum und seht was da los ist. Viel Glück." Und schon hat sie wieder aufgelegt.
In Pinneberg kommen uns die Flüsse Pinnau und Mühlenau auf der Straße entgegen."Da fahr' ich nicht durch“, sagt Rolf, den wir den "laufenden Meter" nennen, weil er 1,60 Meter groß ist. "Mensch, Rolf, wir müssen. Für die "Tagesschau" gibt es keine Ausreden"."Was hältst du davon, wenn wir zurückfahren? Inzwischen ist die Flut sicher schon in Hamburg." Er scheint es nicht zu begreifen, außerdem habe ich das Sagen, ich bin der Kameramann."Das kommt nicht in Frage, wir müssen da durch!“ Glücklicherweise kommt uns ein Pkw entgegen, der munter durch die knietiefen Fluten rollt."Jetzt fahr endlich los!"
Gegen 2.00 Uhr erreichen wir Husum. Da ist schon der Teufel los. Der Nordwestwind knallt mit aller Gewalt gegen die Küste und ist auf dem Weg nach Hamburg. Die Bundeswehr ist mit Sturmbooten unterwegs. Das sind lange, schmale, tiefbordige Dinger mit einem gewaltigen Außenbordmotor. Die Jungs liegen flach im Boot, ich mache es mir im Bug bequem, wegen der besseren Sicht, und schon geht’s los. Die erste Welle rauscht über mich weg, die zweite durchnässt mich bis auf die Haut. Nicht zu vergessen: Es ist Februar. Meine Kamera hat, Gott sei Dank, nur wenig abbekommen und schnurrt sensationslüstern vor sich hin.
Einfach durchhalten
Die Flut hat gerade begonnen. Ich bin der erste Berichterstatter auf Aufklärungsfahrt. Es gibt spektakuläre Bilder. Martin S. Svoboda, Erfinder und Leiter der "Tagesschau" in Hamburg, wird sich freuen. Er ist gefürchtet, akzeptiert keine Amateure.
Seit zehn Jahren gibt es die "Tagesschau" jetzt, 1952 war sie im Fernsehversuchsbetrieb eingeführt worden, vom damaligen NWDR mit seinen Standorten in Hamburg und Köln. Böse Zungen behaupteten, wenn Svo, so wurde er heimlich genannt, in Köln einen Redakteur zusammenstauchte, dann brauchte er eigentlich kein Telefon. Die Hamburger schmunzelten jedes Mal, wenn der Anpfiff nach Köln ging. Ich halte das für übertrieben. Jedenfalls wird er sich über meine Ausbeute dieses Jahrhundert-Ereignisses freuen, denk' ich mal. Es ist schon eine tolle Auszeichnung, wenn man überhaupt gelobt wird. Das höchste Lob allerdings besteht aus einem Gläschen Cognac - ich hatte bisher noch keins bekommen.
16 Stunden für 3 Minuten Film
Nach 30 Metern Film, das sind circa drei Minuten, erwischt dann das über Bord gehende Wasser auch meine Kamera. Drehschluss. Zurück an Land hören wir, dass die Flutwelle Hamburg erreicht hat. Von den netten Husumern bekomme ich jede Art von Kleidungsstücken, für meine völlig durchgeweichten Klamotten. Die Leute grinsen, ich muss fabelhaft aussehen.
Nach 16 Stunden sind wir wieder im Studio in Lokstedt. Da überstürzen sich die Nachrichten. Wilhelmsburg unter Wasser, die Menschen auf den Dächern, die Bundeswehr mit allen Mitteln, zum Beispiel mit Hubschraubern, im Einsatz. Die Filmberichte gehen ungeschnitten - und von den Redakteuren ungesehen - live kommentiert über den Bildschirm. Zehn Jahre "Tagesschau", das Schlachtross der ARD. Mittlerweile gibt es fast vier Millionen Zuschauer und dann noch die Ferngucker vor den Radioläden oder beim Nachbarn. 1952 waren es nicht mal 15.000. Das Fernsehen besteht seine erste Generalprobe als direkter Nachrichterübermittler.
Die Sturmflut in Zahlen
Und nun zu der Katastrophe und ihren Zahlen: Windstärke 9, Wasserpegelstand 3,50 Meter über normal, 6.000 Häuser zerstört, 75.000 Menschen müssen ihre Wohnung verlassen, 315 Tote. Dass die Zahlen nicht dramatischer wurden, verdankt Hamburg seinem Innensenator Helmut Schmidt. Er hatte die Bundeswehr eingesetzt, ohne den Hamburger Senat oder die Regierung in Bonn um Erlaubnis zu fragen (so sagt man). Es war also nicht der Innensenator, sondern der Oberleutnant, der die einzig richtige Entscheidung getroffen hatte.