Corona und die Kinder: Was haben Schulschließungen gebracht?
Schulschließungen in der Corona-Zeit hatten wissenschaftlich erwiesen einen starken Effekt auf das Infektionsgeschehen. Aber sie führten auch zu sozialen Verwerfungen. Wie könnten Kinder in einer neuen Pandemie geschützt werden?
Die Jüngsten gelten als Verlierer der Corona-Pandemie - in vielerlei Hinsicht. Für die Politik scheint deshalb klar zu sein, dass Schulen und Kitas in einer nächsten Pandemie offen bleiben müssten. Eine Garantie, dass das möglich wäre, können Wissenschaftler aber nicht geben. "Niemand kann ausschließen, dass nicht wieder die Schulen zugemacht werden", sagt der Bildungsforscher Olaf Köller in der neuen Folge des NDR Info Podcasts Coronavirus-Update. Denn: "Mit jedem neuen Virus, mit jeder neuen Infektionswelle, mit jeder neuen Pandemie wird man zunächst nicht wissen, wie das Virus genau funktioniert und welche Risiken bestehen, wenn sich Kinder infizieren."
Erste Schulschließungen zu Beginn der Corona-Pandemie
Genau das war der Sachstand zu Beginn der Corona-Pandemie: Forschende beobachteten eine rasante Ausbreitung des neuartigen Coronavirus. Doch es war zunächst nicht klar, wie krank es tatsächlich macht und ob eine Infektion auch für Kinder und Jugendliche riskant sein könnte. Medikamente und Impfstoffe waren noch nicht verfügbar. Am 13. März 2020 gaben die Kultusministerien der Länder die erste Schulschließung bekannt. Zwischen vier und sechs Wochen - je nach Bundesland - blieben Schulen und Kitas in dieser ersten Covid-19-Welle geschlossen.
2020: Schulen in Chile, Lettland und Polen am längsten geschlossen
Deutschland machte damit keinen nationalen Alleingang. Weltweit konnten im Jahr 2020 1,5 Milliarden Schüler in 188 Ländern vorübergehend nicht zur Schule gehen. Am längsten, das geht aus Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung hervor, in Chile, Lettland und Polen. In Europa rangiert Deutschland im Ranking der Schulschließungen an zweiter Stelle. Betrachtet man nur die Oberstufe im internationalen Vergleich, waren die Schulen beispielsweise in Großbritannien, Portugal, der Türkei und Israel länger geschlossen.
Starke Evidenz für Wirksamkeit von Schulschließungen
Als durchaus wirkungsvoll stuft Erziehungswissenschaftler Köller, Leiter des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel, die Schulschließungen ein. "Wir hatten auch in der Corona-Pandemie schon Evidenz, dass dort, wo Schulen geschlossen waren, sowohl die Infektions- als auch die Mortalitätsraten runtergegangen sind", sagt er. Daten der britischen Royal Society belegen das. In einer Metaanalyse haben die Wissenschaftler 104 Studien zu dem Thema zusammengeführt. Mehr als die Hälfte davon fand eine starke Evidenz dafür, dass Schulschließungen das Infektionsgeschehen reduziert haben, sowohl in den Schulen als auch in der restlichen Bevölkerung.
Für Deutschland kommt die Epidemiologin Berit Lange aus Braunschweig zu einem ähnlichen Schluss. In einer Beobachtungsstudie mit Daten von März 2020 bis April 2022 stellt sie fest: Bei geöffneten Schulen war das Risiko, infiziert zu werden, für Schüler und Lehrkräfte größer als für den Rest der Bevölkerung. Und: In der Omikron-Welle Anfang 2022 haben Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler rund 20 Prozent zu den Gesamtinfektionen beigetragen - aber nur zwei Prozent, als die Schulen geschlossen waren.
"Die allermeisten Studien zeigen, dass die Schließung von Schulen einen Effekt hatte auf die Transmission. Aber die Frage ist: Wollen wir Schulen schließen? Ist es uns das wert? Oder wollen wir lieber einen anderen gesellschaftlichen Bereich schließen?" Lars Schaade, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI)
Bildungsforschung: Leistungseinbruch während der Pandemie
Denn was Virologen und Epidemiologen zu Ansteckungen und zur Ausbreitung von Sars-CoV-2 herausgefunden haben, ist nur ein wichtiger Befund. Ein anderer: Die Auswirkungen von Schulschließungen und Distanzunterricht waren für viele Kinder gravierend, sowohl für ihren Bildungsweg als auch für ihre soziale Entwicklung. Das belegt unter anderem das Nationale Bildungspanel, eine seit 2009 laufende Studie mit 70.000 Teilnehmenden.
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"Die, die es schon vor der Pandemie schlechter hatten, denen ist es auch in der Pandemie schlechter ergangen. Das sind oftmals Familien mit Migrationsgeschichte, armutsgefährdete Familien", fasst Erziehungswissenschaftler Köller die Ergebnisse zusammen. "Die, die hinsichtlich ihrer psychischen Ausstattung gut vorbereitet waren, haben deutlich weniger unter den Lockdowns, unter den Schulschließungen gelitten."
Massive Lerndefizite dokumentiert die internationale Vergleichsstudie PISA aus dem Jahr 2023. Demnach schnitten 2022, im dritten Pandemie-Jahr, Schülerinnen und Schüler weltweit so schlecht ab wie nie zuvor.
TIMSS-Studie: Viele Grundschüler haben aufgeholt
In Deutschland stellte der Bund zwei Milliarden Euro für ein sogenanntes Corona-Aufholprogramm zur Verfügung. Offenbar mit Erfolg: Im vergangenen Jahr attestierte die internationale TIMSS-Studie, für die Grundschüler in Naturwissenschaften und Mathematik getestet werden, den meisten Teilnehmenden, dass sie viel aufgeholt und ihre Leistungen stabilisiert haben. Allerdings, betont Köller, "die leistungsschwächsten fünf Prozent im Jahr 2023 waren noch deutlich schwächer als die leistungsschwächsten fünf Prozent vier Jahre zuvor". Auch darunter sind viele Kinder mit Zuwanderungshintergrund.
Homeschooling und Distanzunterricht bedeuten auch weniger Bewegung
Insgesamt, dies verdeutlichen auch andere Studien wie die internationale Grundschul-Leseuntersuchung IGLU, hat die Corona-Pandemie mit Homeschooling und Distanzunterricht einen langfristigen Abwärtstrend im Bildungsbereich noch verstärkt. Das trifft auch auf den wachsenden Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen zu. Laut einer Studie der Europasektion der Weltgesundheitsorganisation verbrachten Kinder zwischen 2021 und 2023 rund ein Drittel mehr Zeit zu Hause vor Computer- oder Handy-Bildschirmen als vor der Pandemie. Das Leibniz-Zentrum für Prävention und Epidemiologie in Bremen, das seit Jahren Daten zu Adipositas bei Kindern und Jugendlichen erhebt, stellte einen direkten Zusammenhang zwischen der Pandemie und Bewegungsmangel sowie sich daraus ergebenden gesundheitlichen Problemen fest.
Drosten: Grundgedanke der Durchseuchung war falsch

Was also tun bei einer nächsten Pandemie - Schulen auf, Schulen zu? Wie könnten tragfähige, vielleicht regional zugeschnittene Kompromisse aussehen? In einem ist sich die Mehrheit von Forschenden über alle Disziplinen einig: Eine sogenannte Durchseuchungsstrategie, also der radikale Aufbau einer flächendeckenden Immunität durch Ansteckungen, ist keine ernstzunehmende Option. Zumindest nicht bei einem neuartigen Erreger wie Sars-CoV-2, bei dem die Vorausprägung einer Immunantwort quasi nicht vorhanden war. "Jeder Mensch brauchte für eine belastbare Immunität mehrere Kontakte mit diesem Erreger, sodass der Grundgedanke der Durchseuchungsstrategie - 'Lassen wir es durchrauschen, dann sind die meisten schon immun' - falsch war", urteilt Christian Drosten, Leiter der Virologie an der Berliner Charité.
Vogelgrippe: Hintergrundimmunität gegen Influenza-Viren vorhanden?
Anders könnte es möglicherweise im Falle einer Influenza-Pandemie aussehen, Stichwort Vogelgrippe. Das H5N1-Virus hat für die Wissenschaft durchaus das Potenzial, Auslöser der nächsten Pandemie zu sein. Etwas Hintergrund-Immunität könnten Menschen gegen dieses Virus durch Infektionen mit anderen Influenza-Viren bereits erworben haben. Allerdings mutieren Grippeviren rasend schnell. Hinzu kommt: Nicht immer werden Kinder von Virusinfektionen weniger hart getroffen als Erwachsene. Drosten nennt das Beispiel Mumps: "Bei einem Teil der Infizierten - das liegt so im Bereich von eins zu tausend - bekommen wir zwei schwerwiegende Folgeerscheinungen. Das eine ist Unfruchtbarkeit bei Männern, und das andere ist Typ-1-Diabetes. Und das sind natürlich Dinge, die bei jüngeren Menschen besonders schwerwiegend sind."
Epidemiologin Lange: Schulen auf = Kontakte woanders reduzieren
Epidemiologinnen wie Berit Lange machen darum eine einfache Rechnung auf: Wer Schulen nicht dichtmachen will, muss Infektionsketten woanders unterbrechen und zunächst dort massiv Kontakte reduzieren. Das hieße zum Beispiel: noch viel mehr Homeoffice als in der Corona-Zeit oder starke Beschränkungen im Nahverkehr. Schulschließungen kämen dann im Zweifel nur als allerletztes Mittel in Betracht.
Leibniz-Lab forscht an Pandemie-Szenarien - Investitionen aus Digitalpakt 2.0
Bleibt die Frage, wie gut vorbereitet die Schulen sind, sollte es doch irgendwann wieder zu Distanzunterricht kommen. Laut ifo-Institut hatte nur ein Drittel der Schüler in Deutschland während der Corona-Pandemie Zugang zu einer effektiven Lernplattform. Die Voraussetzungen für Online-Unterricht sind mittlerweile besser, auch wenn noch immer nicht alle Schulen einen Breitband-Internetanschluss haben.
Der Ende des vergangenen Jahres verabschiedete Digitalpakt 2.0 sieht weitere Investitionen in Höhe von fünf Milliarden Euro in die Bildungsinfrastruktur vor. Und der Forschungsverbund Leibniz-Lab "Pandemic Preparedness" arbeitet an schulischen Fragestellungen wie gestaffeltem Unterrichtsbeginn, Unterricht in Kleingruppen, Lüftungstechnik in Klassenzimmern, Transport zu den Schulen, Teststrategien.
Viele Kommunen haben kein Pandemiekonzept für Schulen
Das alles ist auf dem Weg, braucht aber noch Zeit. "Eins steht fest, die Kultusministerkonferenz hat keine fertigen Pläne für die nächste Pandemie in der Schublade", resümiert Bildungsforscher Köller. In den Schulen selbst sieht es womöglich nicht viel besser aus. Das zeigt eine datenjournalistische Recherche des NDR zur Frage, was die Kommunen für den Infektionsschutz und für den Fall von Homeschooling tun. Bundesweit 370 Schulträger haben sich geäußert, die Umfrage deckt damit Gebiete ab, in denen etwa 8,5 Millionen Einwohner leben.
Die Ergebnisse: Nur ein Drittel der Kommunen, die geantwortet haben, haben ein allgemeines Pandemiekonzept für Schulen. Ungefähr die Hälfte der Schulen verweist aber auf individuelle Pandemiepläne. Und zwei Drittel der Schulträger antworteten, dass sie kein pädagogisches Konzept für bessere soziale Chancengerechtigkeit haben, falls massiv Unterricht ausfallen müsste.
Interessant sind die Antworten auf die Frage, ob Schulen heute in der Lage wären, Ansteckungsmöglichkeiten zu reduzieren, indem sie Klassen und Lerngruppen verkleinern. Viele Kommunen gaben an, ein Konzept dafür zu haben. Aber nicht einmal ein Drittel konnte sagen, welche Räume dann genutzt würden oder wohin man Unterricht auslagern könnte.
Bei Schulneubauten berichtet nicht einmal ein Fünftel der Kommunen von geänderten Plänen - zum Beispiel, um für bessere Raumluft zu sorgen. Es gibt aber auch positive Beispiele wie in der Gemeinde Edewecht im niedersächsischen Landkreis Ammerland. Dort werden den Angaben zufolge beim Neubau in einer Grund- und Oberschule die Räume größer angelegt und Lüftungsanlagen mit eingebaut.
Weitere Experten in dieser Folge:
- Dirk Brockmann, Physiker und Modellierer, Direktor des Center Synergy of Systems an der TU Dresden
- Hajo Zeeb, Epidemiologe und Humanmediziner, Leiter der Abteilung Prävention und Evaluation am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen
- Marcus Altfeld, Virologe, Leiter der Abteilung Virusimmunologie am Leibniz-Institut für Virologie in Hamburg
- Andrea Kießling, Rechtswissenschaftlerin, Professorin für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Migrationsrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
- Martin Kriegel, Ingenieur, Leiter des Hermann-Rietschel-Instituts an der TU Berlin
Die neuen Folgen des Coronavirus-Update von NDR Info sind immer dienstags in der ARD Audiothek verfügbar. Kommende Woche gibt es noch einmal eine Doppelfolge: Dann geht es um die Forschung an Medikamenten und Impfstoffen sowie die Faktenlage zu Impfkomplikationen.
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