Corona-Lehren: Die Unbestechlichen - warum wir mehr Daten brauchen
Inzidenz-Dashboard, Intensivregister, Abwassermonitoring: Die Corona-Jahre haben gezeigt, wie wichtig Daten sind, um auf die Ausbreitung von Erregern zu reagieren. Welche Zahlen wären bei einer kommenden Pandemie entscheidend?
Während der Corona-Pandemie gehörte der Blick auf das Zahlenwerk des Robert Koch-Instituts (RKI) für viele Menschen zum Tagesablauf: Covid-19-Fallzahlen, Sieben-Tage-Inzidenzen, Todesfälle. Das Pandemieradar, später auch das Impfquoten-Monitoring, ermöglichte auch Laien, sich schnell einen Überblick über das Infektionsgeschehen zu verschaffen.
Wie wichtig Daten sind, um ein Pandemiegeschehen einschätzen und daraus folgende Maßnahmen ableiten zu können, zeigt auch das Beispiel des Intensivregisters. Als zu Beginn der Pandemie klar wurde, dass zur Behandlung von schweren Corona-Fällen die Betten auf Intensivstationen knapp werden könnten, wurde es im März 2020 binnen zwei Wochen aus dem Boden gestampft. Während das RKI-Dashboard inzwischen nicht mehr aktiv ist, wird das Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) bis heute zur tagesaktuellen Beurteilung von Krankenhauskapazitäten herangezogen.
Intensivmediziner Kluge: Haben nach Corona viel verdrängt
In der dritten Folge des NDR Info Podcasts Coronavirus-Update erinnert sich der Hamburger Intensivmediziner Stefan Kluge daran, wie die erste Corona-Welle auf die Krankenhäuser zurollte: "Wir hatten Sorge, dass wir überschwemmt werden mit Corona-Patienten, das haben ja viele heute vergessen, die jetzt so kritisch im Nachhinein sagen, die ganzen Maßnahmen waren übertrieben. Es gab Fälle in Italien und Frankreich, wo Patienten nicht mehr aufgenommen werden konnten und starben, weil kein Intensivbett mehr frei war. Das haben wir alles verdrängt", sagt er. In Deutschland sei das nicht passiert, weil rechtzeitig die entsprechenden Maßnahmen getroffen wurden.
Mangel an großen Studien für Infektionsforschung
Eigentlich wäre der Beginn einer Pandemie der Zeitpunkt, an dem die Forschung sofort anfängt zu ergründen, warum der Erreger viele Menschen ansteckt, wie krank er macht, wie er sich ausbreitet, doch für große epidemiologische und klinische Studien ist Deutschland in der Infektionsforschung bislang nicht gut genug aufgestellt. Wegweisende Daten aus Beobachtungsstudien mit vielen Teilnehmenden kamen zu jener Zeit aus England, wo allein die REACT-Studie aus Daten von mehr als zwei Millionen Menschen schöpfen konnte. Israel lieferte klinische Ergebnisse zur Erforschung der Impfwirksamkeit.
In Deutschland fehlten bislang passende Kohorten, Gruppen von Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern, die sinnvoll für Fragestellungen der Infektionsforschung zusammengestellt sind. Bestenfalls liegen von ihnen bereits Einwilligungen zum Testen vor und im Fall der Fälle stehen die Teilnehmenden schnell für Testungen und Datenerhebung zur Verfügung.
Im Aufbau: MuSPAD und RKI-Gesundheitsstudie
Am Helmholtz-Institut für Infektionsforschung in Braunschweig arbeitet die Epidemiologin Berit Lange mit anderen Wissenschaftlern daran, dass die Datenlage zu Beginn einer möglichen neuen Pandemie von vornherein günstiger ist. MuSPAD, eine bundesweite Studie zur Immunitätslage in der Bevölkerung vor allem bei Atemwegsinfektionen, wurde bereits während der Corona-Pandemie gestartet. Zudem baut das RKI eine breit angelegte Gesundheitsstudie mit bereits mehr als 40.000 Menschen auf. "Das sind aus meiner Sicht Studien, die, wenn sie gut zusammenarbeiten, dann auch eine relativ nachhaltige Infrastruktur bieten", sagt Lange. Eine Lücke tut sich jedoch in Bezug auf Infektionen bei jungen Menschen auf, denn es gibt bisher keine übergreifenden Kinderkohorten für die Infektionsforschung.
Deutsche Forschungserfolge: PCR-Test und mRNA-Impfstoff
Deutschland hat in der Corona-Pandemie durchaus Forschungserfolge verzeichnet: Der PCR-Test für Sars-CoV-2 wurde an der Charité entwickelt, der erste mRNA-Impfstoff bei Biontech in Mainz. Die Universität Greifswald leistete einen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung der Fälle von Hirnvenenthrombosen nach Impfungen mit dem Vakzin von AstraZeneca. Entscheidende Daten aus klinischen Studien mit Patienten lieferten jedoch andere Länder wie Großbritannien: zu Virusvarianten, Ansteckungsprofilen oder Behandlungsoptionen. Vorteil für die Forschung dort: Das Gesundheitssystem ist zentralistisch organisiert, Datenschutz weniger restriktiv als in Deutschland.
Medizinforschungsgesetz - für weniger Bürokratie bei Studien
Wie Föderalismus und Bürokratie der Forschung hierzulande zu schaffen machen, schildert Stefan Kluge vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf: "Bis vor Kurzem mussten wir bei einer großen Studie 40 verschiedene Ethikkommissionen anschreiben und überall um Erlaubnis bitten. Ein Kollege hat das mal ausgerechnet: Das sind für eine Studie 440 Arbeitsstunden - allein für das Antragsverfahren. Das dauert fast ein Jahr, bis die letzte Ethikkommission zugestimmt hat", sagt er. Tatsächlich hat die Politik hier Lehren gezogen und das Medizinforschungsgesetz verabschiedet. Es ist Ende Oktober vergangenen Jahres in Kraft getreten und sieht vor, dass im Prinzip nur noch eine Ethikkommission entscheiden soll ob ein Studiendesign zulässig ist.
Kluge: Schlusslicht bei Digitalisierung von Gesundheitsdaten
Ein weiteres Hemmnis für Forschende: "Wir haben keine Digitalisierung von Gesundheitsdaten", sagt Kluge. "Das haben andere Länder wie Israel und die USA, oder auch die Türkei und Schweden. Da sind wir in Deutschland leider Schlusslicht." So wird die Vergleichbarkeit von Daten allein dadurch erschwert, dass es in Deutschland keine einheitlichen IT-Standards für Arztpraxen oder Kliniken gibt, in manchen Fällen nutzen sogar einzelne Stationen innerhalb eines Krankenhauses unterschiedliche Software-Systeme.
Was bringt die elektronische Patientenakte?
Dazu kommt: Versorgungsdaten von Krankenkassen und Abrechnungsdaten von Kliniken und Praxen werden bisher nicht zusammengeführt. Die elektronische Patientenakte, die seit Beginn des Jahres in einigen Modellregionen getestet wird, soll das ändern. Geplant ist, Daten aus der ePA künftig anonymisiert auch automatisch für Forschungszwecke verfügbar zu machen, es sei denn, Versicherte widersprechen einer Freigabe ihrer Daten.
Abwassermonitoring: Polio-, Corona- und Influenzaviren auf dem Radar
Frei zugänglich und einzelnen Menschen nicht zuzuordnen ist ein Datenschatz, dessen Hebung während der Corona-Pandemie größere Bekanntheit erlangt hat. Die Rede ist von Abwassermonitoring. Dabei werden Proben aus Kläranlagen entnommen, um zu untersuchen, welche Erreger gerade im Umlauf sind und ob sich eine Infektionswelle aufbaut.
Auf diese Weise wurden kürzlich in Berlin und Stuttgart Polioviren entdeckt - die auch als Kinderlähmung bekannte Infektionskrankheit gilt als nahezu ausgerottet. Bundesweit werden an ausgewählten Kläranlagen Corona- und Influenzaviren registriert und im Infektonsradar dargestellt. In Hamburg wird Abwasser derzeit ausschließlich zu Forschungszwecken auf antibiotikaresistente Keime untersucht.
Max Delbrück Center: Mehr als 1.000 neue Viren entdeckt
Ein wichtiger Forschungspartner dieses Frühwarnsystems in der Corona-Pandemie war das Max Delbrück Center in Berlin. Eine Forschungsgruppe um den Systembiologen Markus Landthaler veröffentlichte im vergangenen Jahr eine Studie mit Daten aus 17 Monaten Abwassermonitoring. Der erstaunliche Befund: Aus der Berliner Kloake wurden mehr als 1.000 bisher nicht bekannte Viren gefiltert.
Der Molekularbiologe Emanuel Wyler, der an der Studie beteiligt war, sieht einen Nutzen des Abwassermonitorings nicht allein in der Überwachung einer möglichen nächsten Pandemie. Seiner Meinung nach könnten in jeder Infektsaison Erkenntnisse für eine Optimierung der Grippeschutzimpfung gewonnen werden: "Vielleicht beginnen wir ein Muster zu sehen, um aufgrund von Daten aus den USA, Asien oder Südamerika vorauszusagen, wann die Grippe bei uns tatsächlich eintrifft", sagt er. "Das könnte dann wieder genutzt werden, um die Impfkampagnen besser zu timen."
Frühwarnsystem Abwasser - Projekt geschrumpft und befristet
Wissenschaftler sehen das Abwassermonitoring zweifelsfrei als Errungenschaft aus der Corona-Pandemie. Auf der Kippe steht jedoch die Finanzierung. Statt 175 werden seit Anfang dieses Jahres nur noch 70 Kläranlagen für das abwasserbasierte Monitoring herangezogen, also nicht einmal die Hälfte. Und auch in diesem Umfang ist die Finanzierung des Projekts vorerst nur befristet bis zum kommenden Sommer. Mit Blick auf die nächste Pandemie keine besonders sichere Perspektive.
Die neuen Folgen des Coronavirus-Update von NDR Info sind immer dienstags in der ARD Audiothek verfügbar. Kommende Woche geht es um die Wirksamkeit von Maßnahmen wie Masken und Kontaktbeschränkungen in einer Pandemie.