Aus Bombentrümmern zur Vision der "neuen" Stadt
Viele Städte in Norddeutschland liegen nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern. Architekten bietet das Raum für Utopien: Sie planen aufgelockerte und autogerechte Viertel, in denen historische Gebäude eher stören.
Schnell gilt es, die Trümmer zu beseitigen und die Städte wieder aufzubauen. Denn Mitte der 40er-Jahre herrscht akute Wohnungsnot, viele Menschen müssen in Notunterkünften unterkommen, sogenannten Nissenhütten. In den 1950er-Jahren entsteht ein regelrechter Bauboom. Doch wie sollen Gebäude, Wohnviertel und Städte der Zukunft aussehen? Das ist eine Frage, die nicht nur Architekten und Stadtplaner, sondern auch Bürger und Politiker beschäftigt. Während die Traditionalisten die Städte so oder zumindest so ähnlich aufbauen wollen, wie sie vor dem Zweiten Weltkrieg ausgesehen hatten, gibt es auch Verfechter eines radikalen Neuanfangs.
Licht, Luft - und Platz für Autos
Diese Stadtplaner und Architekten haben Visionen: Ihnen schweben gegliederte Stadtviertel vor, die von Licht und Luft durchströmt werden, mit breiten Straßen, die den Verkehr durch die Städte pumpen. Autogerecht, aufgelockert und begrünt sollen diese Städte sein.
Einigen Stadtplanern kommen die Zerstörungen des Bombenkrieges deshalb gar nicht so unrecht, denn auf den freigewordenen Flächen ist viel Platz für eine moderne, zeitgemäße Architektur. Und was die Bomben verschont haben, opfern einige der Nachkriegsarchitekten vielerorts ihrem Plan, denn mittelalterliche Häuser und verwinkelte Gassen stören nur.
Hamburg: Neu-Altona als Modellprojekt
In Hamburg ist Neu-Altona eines der Beispiele für diese radikale Nachkriegs-Architektur. Der Arbeiterbezirk liegt in Hafennähe, von den kleinen und mittelgroßen Häusern in den verwinkelten Gassen hat nur etwa ein Drittel den Bombenhagel überstanden. Diese Häuser wollen die Nachkriegsarchitekten jetzt auch noch abräumen. Der Architekt Ernst May, einer der wichtigsten deutschen Stadtplaner des 20. Jahrhunderts, wird 1954 Planungschef des weltgrößten Wohnungsbaukonzerns Neue Heimat und holt Pläne des Stadtplaners Konstanty Gutschow aus der Schublade, der unter Hitler die Führerstadt Hamburg mit Hochhäusern an der Palmaille, aufgelockerter Zeilenbauweise, Grünzügen und breiten Verkehrsstraßen plante. May wird damit beauftragt, Alt-Altona abzureißen und Neu-Altona zu bauen. Es ist das größte Neubauprojekt der noch jungen Bundesrepublik. 11.000 Wohnungen für 40.000 Menschen sollen dort entstehen.
Trennung von Wohnen, Arbeiten und Verkehr
May hält nichts von den Wiederaufbauversuchen anderer Städte, sondern plant ohne Rücksicht auf historische Strukturen. Rund um Altonas Hauptkirche St. Trinitatis wird dafür noch ein ganzes Quartier abgerissen. Während sich der Wiederaufbau in anderen Hamburger Stadtteilen wie Barmbek und Hamm an alten Strukturen orientiert, gilt Neu-Altona als Modellprojekt für die neue, autogerechte Stadt. Grundstücke werden neu zugeschnitten, Hochhäuser neben Grünanlagen gestellt, breite Straßen gebaut. Statt dunkelrotem Backstein werden helle Ziegel vorgeschrieben. Häuser, die höher als vier Stockwerke sind, bekommen Flachdächer. Grundlage für das Bebauungskonzept ist eine strikte Trennung von Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Verkehr, dazu kommen großzügige Spiel- und Grünflächen.
Hannover: Autogerechte Stadt der Zukunft
Auch im zerbombten Hannover bedeutet das historische Stadtbild vielen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr viel. Das Neue Rathaus aus der Zeit Kaiser Wilhelms II. wird verschont, doch rund herum entsteht eine typische Stadt des Wiederaufbaus: breite Straßen, schlichte Bauten und viel Platz für den Autoverkehr. Stadtplaner Rudolf Hillebrecht schlägt eine Verkehrsschneise rund um Alt- und Innenstadt und errichtet ein Tangentensystem, das heutige Schnellwegsystem. Es wird zum Beispiel für moderne, autogerechte Stadtplanung. Um seine Vorstellungen umzusetzen, setzt Hillebrecht schon früh auf Gespräche mit den Grundeigentümern und überredet sie, sich von ihren Trümmergrundstücken im Kreuzkirchen-Viertel zu trennen. So kann Hillbrecht in kurzer Zeit ein Neubauviertel nach neuesten Maßstäben schaffen, mit einzelnen Häusern in Zeilenbauweise statt geschlossener Straßenzüge. Schließlich sollen Licht und Luft die Häuser und Wohnungen umfluten. Einige Fachwerkhäuser, die der Krieg verschont hat, lässt Hillebrecht abtragen und rund um die Marktkirche wieder aufbauen.
Kritik und Lob für Hillebrechts Arbeit
Kritiker vermissen eine Achtung vor der Geschichte der Stadt, denn Hillebrecht lässt auch historische Bauwerke wie die Flusswasserkunst an der Leine und das Friederikenschlösschen abreißen. Alt-Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg (SPD) betont in der NDR Dokumentation Unsere Geschichte - Von Bausünden und Bürgerprotest aber auch die guten Seiten von Hillebrechts Arbeit. Für ihn ist die autogerechte Stadt bis heute ein modernes Konzept, das den Abbruch verbliebener Baudenkmäler rechtfertigte: "Wenn ich alles zusammenfasse, muss ich sagen, war es ein Gewinn für Hannover, dass Hillebrecht hier in Hannover als Stadtbaurat die Planungen in der Hand hatte."
Architektur-Utopie mit Schattenseiten
Es gibt in Norddeutschland weitere Beispiele für die radikale Nachkriegsarchitektur, etwa in Bremen, wo im Zuge des Wiederaufbaus historische Bebauung verschwindet. Doch vielerorts zeigt die Utopie der neuen Stadt schnell ihre Schattenseiten: Die Umsetzung der Pläne ist teuer, einige Vorhaben wie Neubaupläne für den Hamburger Stadtteil St. Georg scheitern am Widerstand der Eigentümer, die ihre Grundstücke nicht für die moderne Nachkriegsplanung hergeben wollen. Vielerorts kommen die hochtrabenden Pläne nur schleppend voran. In Neu-Altona zum Beispiel steht nach fast 20 Jahren Bauzeit nur die Hälfte der geplanten Gebäude. Kritiker bemängeln eine Verödung und fehlendes Nachbarschaftsgefühl in den mit großen Visionen gebauten, autogerechten Vierteln. In Hildesheim werden Bauten der Nachkriegszeit in den 1980er-Jahren sogar wieder abgerissen, um das Knochenhaueramtshaus, ein Fachwerkhaus aus dem 16. Jahrhundert, wiederherzustellen.
DDR: Industrielle Bauweise wird perfektioniert
In der DDR geht es bis in die Mitte der 1950er-Jahre um den Wiederaufbau, etliche Prunkgebäude werden im Stil des Sozialistischen Klassizismus errichtet, dem "Zuckerbäckerstil". Doch nach dem Ende der Stalin-Zeit gewinnt das industrielle Bauen an Bedeutung, denn die Bevölkerung braucht Wohnraum. Außerdem sind Geld und Material Mangelware. Die Plattenbauweise wird bis zur Wende immer weiter perfektioniert.
Noch in den 80ern wird historische Bausubstanz zerstört
Viele Altstädte verfallen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mangels Instandhaltung. Greifswald hat den Bombenkrieg nahezu unversehrt überstanden, trotzdem geht ein Teil der mittelalterlichen Bausubstanz noch in den 1970er- und 1980er-Jahren verloren. Greifswald wird eine von drei Städten in der DDR, die sozialistisch umgestaltet werden sollen: In einem ersten Bauabschnitt werden etliche Häuser in der Innenstadt abgerissen und durch Häuser in sogenannter angepasster Plattenbauweise ersetzt.
Zwei weitere sogenannte Umgestaltungsgebiete folgen, weiter draußen werden Plattenbausiedlungen errichtet. Einige denkmalgeschützte Gebäude wie die Stadtbibliothek werden zwar restauriert, doch viele Greifswalder trauern um die Häuser mit mittelalterlicher Bausubstanz, die verschwinden. "Wenn ein solcher Bereich zerstört wird, dann ist das letztendlich so, als ob eine kollektive Amnesie verordnet wird, ein Gedächtnisschwund", sagt der Historiker Felix Schönrock in der NDR Dokumentation "Von Bausünden und Bürgerprotest".
Das Jahr des Denkmalschutzes als Wendepunkt
Auch im Westen mehrt sich Kritik an der funktionalen Bauwut. 1975 gilt als ein Wendepunkt für den deutschen Städtebau: Im Jahr des Denkmalschutzes steigt das Bewusstsein für das Alte, das es zu bewahren gilt. Nicht nur im Westen gibt es einigen Bundesländern neue Vorgaben für den Denkmalschutz, auch die DDR erlässt 1975 das sogenannte Denkmalpflegegesetz. Heute stehen nicht nur historische Gebäude früherer Epochen unter Denkmalschutz, sondern auch viele Bauten der Nachkriegszeit wie etwa die Hamburger Grindelhochhäuser, deren Errichtung kurz nach Kriegsende begann. Als Brutalismus wird ein Architekturstil der 1960er- und 70er-Jahre bezeichnet, dessen Name auf der französischen Bezeichnung "béton brut" für Rohbeton fußt. Lange als Bausünden geschmäht, schätzen Architekturfans inzwischen den radikalen Look und setzen sich für den Erhalt dieser Bauten ein.