Mestlin: Das sozialistische Musterdorf der DDR
In Mestlin wollte man Anfang der 1950er-Jahre zeigen, wie schön der Sozialismus sein kann. 200 solcher Siedlungen sollte es in der DDR geben. Doch im realen Sozialismus fehlte das Geld. Mestlin blieb einzigartig.
An nichts sollte es den Menschen fehlen in Mestlin, einem Dorf knapp 40 Kilometer östlich von Schwerin im heutigen Landkreis Ludwigslust-Parchim in Mecklenburg-Vorpommern, urkundlich erwähnt erstmals bereits im Jahr 1312: Krankenhaus, Restaurants, Post, Geschäfte, Oberschule, Kindergarten und moderne Wohnungen - all das wurde innerhalb weniger Jahre hochgezogen. Helmut Schulz zum Beispiel erlebte als Kind, wie sein Geburtsort im Rekordtempo zu einem Arbeiter- und Bauernparadies umgebaut wurde. Bis es losging, habe es nicht mal eine ordentliche Straße gegeben, durch Matsch und Modder habe man laufen müssen, am besten in Gummistiefeln. Dann sei aber plötzlich alles ruckzuck gegangen, erzählt er in der NDR Fernseh-Dokumentation "Das DDR-Musterdorf Mestlin". Höfe wurden abgerissen, im Eiltempo wuchs an ihrer Stelle ein neues Gebäude nach dem anderen aus dem Boden.
Bloß keine Mangelwirtschaft im Musterdorf
Fortan gab es hier alles, was anderswo fehlte. Denn Mangelwirtschaft durfte es im Musterdorf nicht geben. Allein im Jahr 1960 wurden fast 90 Fernseher, 30 Motorräder und 20 Kühlschränke von der Konsumgenossenschaft verkauft. Mestlin entwickelte sich zu einem Sehnsuchtsort in der DDR. "Eigentlich waren alle sehr zufrieden hier", erinnert sich Helga Schulz, die einst den Kindergarten geleitet und bis zu 160 Kinder betreut hat, in der Dokumentation: "Jeder hatte ein Bad. Und die meisten hatten auch noch ein Kinderzimmer, was man vorher ja gar nicht kannte". Allerdings habe sie selbst dort auf politisch korrekte Erziehung achten müssen. "Das war manchmal ein bisschen übertrieben", sagt sie rückblickend. "Ich muss sagen, die Kinder kannten ja Moskau bald besser als die nächste Kreisstadt." Mestlin wurde beliebt, zog die Menschen ob seiner für das flache Land hervorragenden Lebensbedingungen aus dem Umland an - bald zählte das Dorf 1.700 Einwohner.
Kulturhaus Mestlin: Opulent und eine Nummer zu groß
Das Kulturhaus bildete mit 700 Quadratmeter für Saal und Bühne den opulenten Mittelpunkt des Vorzeige-Dorfes. Die geplanten Baukosten von 1,2 Millionen Mark allerdings waren zu niedrig kalkuliert worden und stiegen auf 3,5 Millionen, woraus sich für künftige DDR-Bauvorhaben im größeren Stil die Formel "geplante Baukosten mal zwei plus 40 Prozent" entwickeln sollte. Charakteristisches Element des Prunk-Baus: der Säulen-Vorbau. Auf der einen Seite wolle sich die DDR mit ihrer Architektur von einstigen Nazi-Bauten abgrenzen. Auf der anderen Seite galt es, eine gewisse Tradition zu wahren - ästhetische Neuerungen wurden kategorisch ausgeschlossen und zum Beispiel als amerikanische Un-Kultur verunglimpft. Das Gebäude entstand also als Mischung aus Repräsentationskultur und Klassizismus - und die DDR zeigte sich in ihm als Nachfolger einer klassischen Bürgertradition.
Gaststätte, Kino und DDR-Prominenz
Neben Saal und Bühne beherbergte das Kulturhaus eine Klubgaststätte, Weinstube, Standesamt, Versammlungsräume, Zentralbibliothek und ein Kino. Bis zur Wende kamen jährlich mehr als 50.000 Menschen aus Mestlin und Umgebung ins Kulturhaus. "Da waren Feiern und Veranstaltungen rund um die Uhr - jede Woche gab's was Neues hier", so Helmut Schulz. Das DDR Fernsehen berichtete regelmäßig über glanzvolle Aufführungen von Ost-Stars. DDR-Prominenz von Bärbel Wachholz, Frank Schöbel und Gerd Michaelis mit seinem Chor gaben sich die Klinke in die Hand, die Band Karat pries den blauen Planeten und Silly sang über die erste Liebe. So fungierte das Kulturhaus als staatlich organisierte politisch-kulturelle Institution für Geselligkeit, Unterhaltung und Bildung. Das sozialistische Schlaraffenland funktionierte allerdings nur durch ständigen Geldsegen aus Ost-Berlin.
Nach dem Mauerfall bröckeln die Fassaden
Als die Finanz-Zuschüsse nach der Wiedervereinigung ausblieben, bedeutete das auch für das Kulturhaus eine Zeitenwende. Viele Menschen verließen Mestlin - und am einstigen Vorzeige-Bau im Vorzeige-Dorf bröckelten die Fassaden. Nach der Wende kam mit Hilmer Schuster ein Gastronom und Investor nach Mestlin, der aus dem Kulturhaus die Disko Palace Jopy machte. Die Gemeinde, die dem Pachtvertrag zugestimmt hatte, hoffte mit einer Mark pro verkaufter Eintrittskarte auf das große Geld. Doch unter Schusters Ägide blieb vom einstigen Charme des Kulturhauses nicht viel über: Wandbilder wurden übermalt, die Kronleuchter verschwanden - und die zugesagte Mark pro Eintrittskarte kam nie bei der Gemeinde an.
Schlamm-Catchen und Strand-Disko geben der Einrichtung den Rest
Stattdessen verpachtete Schuster an drei Brandenburger, die Themen-Abende mit Schlamm-Catchen und Stand-Disco veranstalteten - Schlamm und massenhaft Sand auf dem Parkett inklusive. Die Gemeinde ging abermals leer aus - bis der Betrieb im Kulturhaus auf Anweisung des Landkreises Ludwigslust-Parchim eingestellt wurde. Die Hinterlassenschaft nach der Räumung: Ein demoliertes Kulturhaus, leer geräumt bis auf das, was wirklich niemand mehr gebrauchen kann, verschimmelte Türen, Ratten und ein kaputtes Dach.
Kultur Denkmal Mestlin e.V. startet Sanierungs-Marathon
Ein Jahr nach dem Ende der Diso-Ära gründete sich 1997 ein Förderverein, der auch Fördermittel in Höhe von 557.900 DM vom Denkmalschutzes des Landes, des Landkreises und der Gemeinde bekam. Doch der überforderte Verein löst sich 2004 wieder auf. Abermals lag das Kulturhaus brach - bis sich 2009 mit dem Verein Denkmal Kultur Mestlin e.V. eine neue Initiative gründete. Als eine Mischung aus Spannung und Entsetzen beschreibt Peter Enterlein, der zweite Vorsitzende des Vereins, die ersten Begegnungen mit dem Haus: "Zu sehen, was da alles welchen Schaden genommen hat." Nur wegen seiner hervorragenden Bausubstanz habe das Kulturhaus den Raubbau nach der Wende überstehen können.
Gegen einen symbolischen Betrag schloss der Verein einen Pachtvertrag mit der Gemeinde, gemeinsam wollte man das Haus erhalten. Ein rund zehnjähriger Sanierungs-Marathon begann. "Wenn man vorher wüsste, was alles auf einen zukommt, würde man es glaube ich nicht machen", resümierte Claudia Stauß, damalige Vereinsvorsitzende, zum zehnjährigen Vereinsjubiläum 2018 gegenüber dem NDR Fernsehen.
Deutscher Preis für Denkmalschutz als "Lohn"
Doch der Verein steckte all seine Energie in das Projekt - mit Erfolg: 2011 wurde das Gebäude als national bedeutsames Denkmal anerkannt. 2017 konnte das Kulturhaus wieder eröffnen - mit Bühne, Saal, Weinstube, Gasheizung, Strom und neuen Toiletten. Prominenter Besuch bliebt zwar aus, aber das Dorf feierte erstmals seit der Wende wieder an einem zentralen gemeinsamen Ort das Erntedank-Fest. Mehr als die Hälfte der Einwohner kamen - ein großes Kompliment für die Ehrenamtlichen, die sich jahrelang für das Haus engagiert hatten. Und im gleichen Jahr noch eine besondere Würdigung erfuhren: die Auszeichnung mit dem Deutschen Preis für Denkmalschutz. So ist Mestlin drei Jahrzehnte nach dem Sturz der DDR mit seinen heute gut 700 Einwohnern wieder ein ganz "normales" Dorf - aber eines, das viel Geschichte atmet.