Neu-Altona: Visionen einer idealen Stadt
Am 4. April 1956 beginnt das größte Bauvorhaben der jungen Bundesrepublik: In Neu-Altona sollen 11.000 Wohnungen entstehen. Die Planer wollen dort die Vision einer idealen Stadt verwirklichen.
Das Projekt startet mit einem symbolischen und feierlichen Akt: Hamburgs Erster Bürgermeister Kurt Sieveking legt am 4. April 1956 an der Paul-Roosen-Straße in Altona den Grundstein für einen neuen Wohnblock. Weil auch elf Jahre nach Kriegsende noch immer große Wohnungsnot herrscht, wollen die Stadtplaner keine einzelnen Häuser oder Straßenzüge errichten, sondern insgesamt 11.000 Wohnungen für 40.000 Menschen auf einem 210 Hektar umfassenden Gebiet, so groß wie 300 Fußballfelder. Es liegt zwischen Nobistor und Altonaer Bahnhof, Holstenstraße und Palmaille und erhält den Namen "Neu-Altona".
Ernst May: Berühmter Stadtplaner mit radikalen Ideen
Entworfen hat den neuen Stadtteil der Architekt Ernst May, der wichtigste deutsche Stadtplaner des 20. Jahrhunderts, ein radikaler Technokrat, dem alles machbar scheint: Schon um 1930 hat er mit kubistischen Trabantensiedlungen in Frankfurt für internationales Aufsehen gesorgt, als Chefingenieur für den Wohnungsbau in der Sowjetunion zum Abriss Moskaus geraten und Industriestädte wie Magnitogorsk aus dem Boden gestampft. 1954 holt ihn der Hamburger Oberbaudirektor Werner Hebebrand, der seinem Arbeitsstab in der Sowjetunion angehörte, aus der ostafrikanischen Emigration nach Hamburg. May wird Planungschef des weltgrößten Wohnungsbaukonzerns, der "Neuen Heimat".
Viertel ist nach dem Krieg eine Trümmerwüste
In einem Mercedes 180 D lässt sich der 67-jährige May durch Altona fahren, ein Trümmerfeld, aus dem nur vereinzelt Bunker, Kirchenruinen und Mietskasernen ragen. Das trostlose Viertel um die Trinitatiskirche mit ihren grauen Hinterhöfen hat schon Altonas Oberbürgermeister Max Brauer in den 1920er-Jahren als "Herd von Seuchen und Verbrechen" bezeichnet. Der weltläufige May nennt die alten Häuser nun menschenunwürdige "Slums" und will sie abreißen, zusätzlich auch die erhaltenen Bauten der Gründerzeit.
Die Visionen der Technokraten
Planungen für die Sanierung Altonas gibt es schon im Kaiserreich. Während der Weimarer Republik fehlt aber das Geld. Unter den Nationalsozialisten werden ganze Straßenzüge abgebrochen, auch, weil das Regime die dort wohnenden Arbeiter als Kommunisten verdächtigt.
Der Architekt Konstanty Gutschow, der 1939 im Auftrag Hitlers die Führerstadt Hamburg plant, fordert Hochhäuser an der Palmaille, aufgelockerte Zeilenbauweise, Grünzüge und breite Verkehrsstraßen. Er sieht die verheerenden Bombenangriffe der Operation Gomorrha von 1943 als Chance, seine Visionen umzusetzen. So denken übrigens Stadtplaner in ganz Europa in diesen Jahren. Gutschows Generalbebauungsplan dient zehn Jahre später auch den Entwürfen Ernst Mays als Grundlage. Und im "Planungsbüro Neu-Altona" sitzen Gutschows ehemalige Mitarbeiter.
May kritisiert die Aufbauversuche anderer deutscher Großstädte als "Flickschusterei" und "Zahnlückenfüllung". Er geht von einer leeren Fläche zwischen Reeperbahn und Max-Brauer-Allee aus, plant ohne Rücksicht auf historische Strukturen, will in Altona die ideale Stadt der Zukunft bauen.
Zerstörung und Aufbau liegen dicht nebeneinander
In seinem pastellgetönten, mit Stahlrohrmöbeln ausgestatteten Büro bei der "Neuen Heimat" stapeln sich bald Stadtpläne, Messtischblätter und Luftaufnahmen. 2.000 Fotos lässt May in Altona von Ruinen und Häuserresten anfertigen. Gemeinsam mit Oberbaudirektor Hebebrand legt May am Reißbrett nun neue Grundstücksgrenzen fest, verfügt ein neues Straßensystem mit breiten Verkehrswegen für den zunehmenden Autoverkehr, plant Hochhäuser, U-Bahnlinien, Schulen, Gewerbegebiete, Grünzüge, eine Fernheizung für das gesamte Areal. Die geschätzten Kosten erreichen bald 300 Millionen Mark.
Die Erinnerung an das alte Altona wollen die Planer auslöschen, bauen das historische Rathaus an der Königstraße nicht wieder auf, degradieren das frühere Zentrum um die Trinitatiskirche zur Hundewiese, vernichten an der Palmaille historische Bauten, vom Denkmalschutzamt bereitwillig unterstützt.
Nicht nur das städtebauliche Konzept ist modern, auch die Formensprache soll es sein. Die Gestaltungsverordnung schreibt im Gegensatz zur traditionellen Bauweise mit dunkelrotem Backstein nun ausdrücklich helle Ziegel vor. Und für Häuser, die höher als vier Stockwerke sind, werden Flachdächer vorgeschrieben. May spottet, unter Spitzdächern sammelten die Bewohner doch nur "alte Ofenrohre, ausgediente Sessel und sonstiges Gerümpel".
Vision und Wirklichkeit
Aber die Arbeiten gehen nur noch schleppend voran. Der Abriss von unzerstörten Häusern, für die Hebebrand angesichts größter Wohnungsnot eine Sondergenehmigung besorgen muss, stagniert, weil es für die Bewohner keine Ersatzunterkünfte gibt. Nach sieben Jahren sind erst 3.500 Wohnungen fertig. Die zentrale Ladenstraße Neue Große Bergstraße mit markanten, quer stehenden Bürogebäuden im Westteil wird erst nach zehnjähriger Bauzeit eröffnet, als erste Fußgängerzone Hamburgs. Da hat Ernst May die "Neue Heimat" längst verlassen, um andernorts Trabantenstädte und Plattenbausiedlungen zu entwerfen, wie etwa Neue Vahr in Bremen.
Nachdem die vorgesehene Bauzeit von 19 Jahren verstrichen ist, steht nur die Hälfte der ursprünglich geplanten Gebäude. Die Hoffnungen des Aufbruchs sind längst der Ernüchterung gewichen. Das Einkaufszentrum Frappant gerät in den 70er-Jahren schon bald als "Betonklotz" und "Schandfleck" in die Kritik. Ausfallstraßen und Gewerbehöfe zerteilen die Wohngebiete, Grünzüge verwahrlosen. Kritikern gilt Neu-Altona heute als "einer der totesten Räume der Stadt".
Altona plant weiter
Auch wenn es nicht an Versuchen mangelt, durch fortgesetzten Abriss und Neubau das städtebauliche Experiment der Nachkriegszeit zu retten, zuletzt durch die Ansiedlung der Ikea-Filiale in der Großen Bergstraße, ist Mays "menschengerechte Stadt im Grünen" doch eine Utopie geblieben. Altona baut stattdessen längst die "Neue Mitte".