Domenica Niehoff: Die "Hure der Nation" auf St. Pauli
In den 1980er-Jahren ist Domenica Niehoff die Ikone der Sexarbeit auf dem Hamburger Kiez. Später hilft die "Hure der Nation" Frauen als Streetworkerin beim Ausstieg aus der Prostitution.
In den 1970er-Jahren läuft im Kino ein "Schulmädchenreport" nach dem anderen. Im Fernsehen steppt "Klimbim" mit der halbnackten Ingrid Steeger. Der "Stern" verkauft Pornos als Fotokunst. Das Geschäft mit Sex wird salonfähig - Prostitution? Was ist denn schon dabei! Auf dem Hamburger Kiez beginnt damals eine bemerkenswerte Karriere: Domenica Anita Niehoff wird innerhalb eines Jahrzehnts von einer Sexarbeiterin zur Ikone, zur "Hure der Nation".
Domenica Niehoff empfing ihre Freier zunächst im Großraumpuff "Palais d'Amour" auf der Reeperbahn. Jede Nacht bediente sie etliche Kunden.
"Ich hatte alles. Alle Schichten. Sie waren winselnd, bettelnd, fordernd, gemein. Brav, lieb, reich, arm, jung, alt." Domenica 2008 in einem "Welt"-Interview
Sie soff und rauchte Kette. Nach ein paar Jahren auf dem Kiez hätte sie ein Wrack sein können. Wie kam es, dass sie stattdessen in Talkshows eingeladen wurde, dass Künstler sie zur "Muse" ernannten? Und wie kam es, dass die "Hure der Nation" schließlich die Seiten wechselte und Streetworkerin wurde?
Domenica Niehoff - Ein Heimkind aus Köln
Geboren wird Domenica Niehoff am 3. August 1945 in Köln. Ihre Mutter trennt sich nach zwei weiteren Kindern von ihrem Vater - er sei gewalttätig. Die Mutter gilt als krankhafte Spielerin und hat des Öfteren mit der Polizei zu tun. Domenica ist vier Jahre alt, als sie und ihre Geschwister in ein Heim kommen. Sie sei ein stilles Mädchen, "stets hilfsbereit und verträglich", steht damals in ihrer Akte. Aber schwermütig sei sie und freue sich über jeden der wenigen Briefe von zu Hause. In der Schule ist sie gut bis sehr gut. In einem Interview sagt Domenica Jahrzehnte später, sie habe einfach Angst gehabt damals - vor dem Leben und vor ihrer Mutter.
Ein Leben in Saus und Braus mit dem Bordell-Betreiber
1960 beginnt das Mädchen eine Ausbildung in einem Büro. Im Karneval lernt sie als 17-Jährige einen 25 Jahre älteren Mann kennen. Er hat viel Geld - und betreibt ein großes Bordell. Das Paar lebt in Saus und Braus. "Anschaffen" muss Domenica für ihren Mann nicht. Eine starke Belastung sind aber seine Depressionen und seine Tablettensucht. Als er Anfang der 1970er-Jahre durch die Pleite einer Privatbank sein Vermögen verliert, erschießt er sich in der gemeinsamen Wohnung. Und Domenica steht ohne Mann und Beschützer und ohne Geld da.
"Ich soff mich jeden Tag ins Koma"
Sie ist 27 Jahre alt, als sie beschließt, selbst in die Prostitution zu gehen. Erst arbeitet sie in München, dann folgt sie ihrem neuen Lebensgefährten - wieder ein Zuhälter im großen Stil - nach St. Pauli. Sie macht viel Umsatz und nimmt vieles hin. In ihren Erinnerungen beschreibt Domenica später ihren Alltag. Selbst nach Feierabend sei sie noch gedrängt worden:
"'Hol noch einen, hol noch einen!' Zwischendurch noch in der 'Ritze': Umsatz machen mit Freiern oder einen mitnehmen, weil in der Tiefgarage ohne Heizung nichts los war." Domenica in ihren Memoiren
Ihr Mann, stadtbekannter Wirt des Lokals "Ritze" habe ihr damals bei der Arbeit heimlich zugesehen und es genossen. "Und er kassierte den Lohn auch noch ab." Sie habe das mitgemacht, "um ihm meine Liebe zu beweisen." Und: "Ich soff mich jeden Tag ins Koma während und nach der Arbeit." 1980 trennt sich Domenica und macht sich selbstständig.
Fotos von Günter Zint machen sie bekannt
Von nun an sitzt sie in einem Schaufenster in der berüchtigten Herbertstraße und geht ihren Geschäften nach. Und langsam wird sie berühmt: als Lieblingsmotiv des Hamburger Fotografen und Mitbegründers der "St. Pauli Nachrichten", Günter Zint. Seine Bilder von der üppigen Domenica und ihren Kolleginnen verbreiten "Kiez-Romantik". Es sind die frühen 1980er-Jahre: Boom-Zeit im Rotlichtviertel, kurz bevor der Krieg auf dem Kiez beginnt, das große Morden unter Konkurrenten um Frauen, Drogen und Waffen - und bevor Aids zum großen Thema wird.
Von der Straße in Filme und Talkshows
Vor allem Leute aus dem Show-Geschäft finden es schick, sich mit St. Pauli-Berühmtheiten zu zeigen. Domenica spielt mit: Es entstehen Fotos mit ihr und Karl Lagerfeld, Jörg Immendorff, Udo Lindenberg, Achim Reichel, Jan Fedder und vielen anderen. Domenica posiert für das Plattencover des Trio-Hits "Bum Bum" - bezeichnenderweise sind dort nur ihr Dekolleté und ihr Mund zu sehen, nicht ihre Augen. Sie wird für mehrere Filme engagiert und spielt - natürlich Prostituierte. Domenica sitzt jetzt sogar in TV-Talkshows. Dort spricht sie sich für die Legalisierung der Sexarbeit aus. Ihr Geschäft brummt.
"Wann kommt endlich ein normaler Mensch?"
In einer NDR Doku über Domenica, die nach ihrem Tod entstand, schwärmt Günter Zint von dieser Zeit: "Da war immer was los im Puff. Es war ein familiäres Klima, wo Freunde verkehrten, also nicht nur Freier, sondern Freunde, die nur kamen, um einen Schnack mit ihr zu halten."
Overinspirateuse Domenica, mit allen Whiskeys und Doppelkörnern gewaschen. Ich spielte ihr meine ersten Songs auf ihrem verstimmten Klavier da hinten vor - und dann gingen wir schon mal gleich die Tantiemen versaufen." Udo Lindenberg in einem Nachruf
Aber jemand muss auch für den Schnaps bezahlen. Und das macht weiter Domenica mit ihrem Körper. Dabei ist sie eigentlich schon einen Schritt weiter. Ihre Arbeit erträgt sie nur mit Alkohol und Tabletten. "Ich schalte einfach ab, wenn ich arbeite. Ich sehe nur sein Ding. Dick, dünn, schlapp, klein, groß, riesig, dicke Eier, kleine Eier, keine Eier ... Ich schüttel' mich und denke: Wann kommt endlich ein normaler Mensch?"
Domenica - keine Domina
Zint berichtet später: "Es gab unter Freiern ein großes Missverständnis." Viele hätten wegen ihres Namens geglaubt, Domenica würde als Domina sado-masochistische Bedürfnisse befriedigen. Ihr Name komme aber von dem italienischen Wort für Sonntag - Domenica. "Und sie konnte überhaupt nicht hauen. Sie hat dann immer 'ne Zofe gehabt, die sie dazu geholt hat. Die musste dann die Peitsche schwingen für sie." Trotzdem posiert Domenica auf Fotos mit Lack, Leder und Folterkeller-Zubehör. Offenbar ist das gut fürs Geschäft. "Die Leute standen Schlange vor ihrem Fenster", so Zint.
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Nach dem Ausstieg Streetworkerin - mit zu viel Herz?
1990 macht Domenica mit der Sexarbeit Schluss. "Eigentlich hätte ich schon fünf Jahre eher aufhören sollen", sagt sie später. Aber welchen Job hätte sie denn sonst machen sollen: "Wer hätte mich genommen?" Domenica sieht nur einen Ausweg: Sie wechselt die Fronten. Sie wird Streetworkerin und will auch anderen Frauen beim Ausstieg helfen. Für 2.500 Mark im Monat, als Angestellte bei der Sozialbehörde. Viele Frauen auf der Straße vertrauen ihr, weil sie das Milieu kennt. Dieses Gebraucht-werden habe wiederum ihr geholfen, resümiert Niehoff später. Aber sie eckt auch an. Studierte Kolleginnen werfen ihr vor, sie verhalte sich unprofessionell: Domenica kann sich nicht abgrenzen. Sie nimmt Drogensüchtige und Schwerkranke mit nach Hause, um deren Not zu lindern.
"Ich habe eben einen Sprachfehler. Ich kann nicht Nein sagen. Das kommt von meinem alten Beruf." Domenica
Manche nutzen ihre Gutherzigkeit aus - Domenicas Ersparnisse gehen dabei drauf. Und auf dem Kiez wird sie von einigen als "Nestbeschmutzerin" beschimpft.
Scheitern als Kneipenwirtin und Flucht in die Eifel
1998 eröffnet Domenica eine Kneipe am Hafen. "Das war nicht gut für sie", meint Wegbegleiter Zint. Sie habe wieder mehr getrunken. "Am liebsten Tee mit Rum, heiß - knallt besser", schreibt Domenica in ihren Memoiren. Die Kneipe läuft nur am Anfang rentabel, dann verliert sie den Überblick. Nach zwei Jahren kommt die Zwangsräumung wegen offener Rechnungen. Das ist Domenica offenbar so peinlich, dass sie langsam wieder auf die Füße kommt. Dabei hilft ihr das Erbe ihres Bruders: Er hinterlässt ihr ein Haus in der Eifel. Dort zieht Domenica hin, in einen Ort mit 600 Einwohnern. Sie eröffnet eine kleine Pension. Erst läuft es ganz gut. Aber dann lockt selbst ihre Prominenz kaum noch Gäste in die Eifel. Sie leidet unter Einsamkeit.
2009 stirbt Domenica - Zum Abschied erklingt "La Paloma"
Schließlich kehrt Domenica 2008 nach Hamburg zurück, nimmt sich eine Sozialwohnung auf dem Kiez. Als alte Gefährten sie wiedersehen, sind sie entsetzt: Domenica hat enorm zugenommen, ist zuckerkrank. "Sie hatte sich einen richtigen Panzer angefressen, das schöne Gesicht war verschwunden", erinnerte sich eine Bekannte. Am 12. Februar 2009 stirbt Domenica an den Folgen einer chronischen Bronchitis. Freunde schmeißen Geld zusammen, veranstalten in St. Pauli einen großen Trauerumzug und organisieren die Beerdigung auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Hunderte Menschen gehen zum Gedenk-Gottesdienst. Zum Abschied läuft Domenicas Lieblingslied: "La Paloma".
Im Jahr 2016 benennt die Stadt Hamburg eine Straße in Altona nach der "Hure der Nation".