Vor 35 Jahren: Massengräber bei Neubrandenburg entdeckt
Die Nachrichten und Bilder gingen um die Welt: Im März 1990 entdeckten Historiker in einem Wald bei Neubrandenburg Massengräber mit Tausenden Toten. Es sind frühere Gefangene der Lager in Fünfeichen.
Die schockierende Meldung läuft am 25. März 1990 in den Abendnachrichten im DDR-Fernsehen: "Neubrandenburger Historiker entdeckten die ersten drei von wahrscheinlich Hunderten von Massengräbern. Über die Anzahl der Opfer gibt es kaum gesicherte Angaben." Die Gräber sind Überreste des Internierungslagers Fünfeichen, das die sowjetischen Besatzer zwischen 1945 und 1948 betreiben. Tausende sitzen seinerzeit dort ein: mutmaßliche Nazi-Verbrecher und Unschuldige. Unter ihnen sind Verwaltungsmitarbeiter, Bürgermeister, Polizisten, Juristen und Zeitungsredakteure. Ungefähr jeder dritte Häftling überlebt die Strapazen im Lager nicht.
Heimliche Grabungen im Sperrgebiet führen zu Massengrab
In der DDR war das Internierungslager noch ein absolutes Tabuthema. Die politische Wende verändert das. "Wir wussten beide nicht, dass es dieser Platz ist. Wir haben im vergangenen Jahr den ganzen Wald durchkämmt, weil wir Hinweise darauf hatten, dass die Toten hier liegen", erläutert Dieter Krüger, der Leiter des Museums Neubrandenburg, in den Abendnachrichten. Der andere der beiden Entdecker ist Harry Schulz. Er arbeitet damals im Neubrandenburger Museum und gräbt zusammen mit seinem Chef wochenlang heimlich im Sperrgebiet: "Eigentlich wollten wir schon aufgeben. Doch da waren durch die Schattenbildung und die tiefstehende Sonne Absenkungen und Gruben hier auf diesem Areal zu sehen." Schulz und Krüger graben weiter und finden schließlich das erste Massengrab. Die Lagertoten - würdelos abgekippt im Wald.
Neubrandenburg lockt Journalisten aus der ganzen Welt an
Die beiden Historiker informieren daraufhin die Presse. Es ist der erste Fund eines solchen Massengrabs in der DDR. Journalisten aus der ganzen Welt kommen nach Neubrandenburg. "Ich kam nach Hause, da saß auf jeder Treppenstufe einer, also irgendwer muss meine Adresse kundgetan haben, meine Telefonnummer weitergegeben haben. Morgens um drei Uhr klingelte das Telefon, Radio Toronto war dran", schildert Schulz das große Medieninteresse.
Das genaue Ausmaß der Verbrechen ist lange unbekannt. "Wir hatten die ersten Zahlen von Moskau über das Deutsche Rote Kreuz bekommen, dass es Tausende sind. Aber die Zahl 4.900 ist erst relativ spät bekannt geworden", erzählt Rita Lüdtke von der "Arbeitsgemeinschaft Fünfeichen". Der 1991 gegründete Verein will erinnern, aufarbeiten und bewahren.
Internierungslager Fünfeichen war Tabuthema in der DDR

Aus dem ganzen Land werden Menschen ins sowjetische Internierungslager verschleppt, von Wismar über Sternberg bis Teterow. Selbst Minderjährige. Erst 1990 brechen manche ihr Schweigen und sprechen nun frei über ihre Verhaftung: "Es geht um eine kleine Besprechung. Niemals habe ich damals geahnt, dass diese kleine Besprechung drei Jahre dauern würde", berichtet Kurt Groth, der als 15-Jähriger verhaftet wird, im DDR-Fernsehen am 27. März 1990. Immer mehr Hinterbliebene kommen an den Ort des Verbrechens - Jahrzehnte nach dem Tod des Opas, Vaters, Bruders, Sohnes. Endlich dürfen sie über die Ereignisse sprechen. "Es durfte keiner wissen, dass mein Vater hiergeblieben ist. Das durfte ich ja gar nicht sagen", erzählt einer der Hinterbliebenen.
Sowjetische Soldaten sterben im Kriegsgefangenenlager

Im Juli 1990 findet ein erstes öffentliches Gedenken statt. Doch das Internierungslager der Sowjets war nicht das einzige Lager hier. Bereits im Zweiten Weltkrieg gibt es ein Kriegsgefangenenlager. Für Italiener, Polen, Niederländer. Und andere. Auch sie erleiden großes Unrecht. Allein etwa 6.000 sowjetische Soldaten sterben in Fünfeichen. Daran erinnert zu DDR-Zeiten ein Mahnmal, das nicht öffentlich zugänglich ist, weil es im Sperrgebiet liegt.
Historiker bemühen sich um eine sachliche Aufarbeitung
Tote Kriegsgefangene, tote Deutsche. Anfang der 1990er-Jahre stellt sich die Frage, wie ein Gedenken für die Opfer aussehen kann. Es sei schon so gewesen, dass in der Öffentlichkeit (…) fast nur über das Internierungslager gesprochen wurde, das ist aus heutiger Sicht ja auch verständlich, erläutert Rolf Voß, der Leiter des Regionalmuseums Neubrandenburg (1994-2023), die Aufarbeitung. "Die Museumsmitarbeiter und die Historiker, auch hier in der Stadt Neubrandenburg, haben sich immer um eine sachlichere Betrachtung bemüht. Zuerst die deutschen Kriegsverbrechen, dann das verbrecherische Lager der Sowjets", so Voß weiter. Eine erste Ausstellung im Neubrandenburger Museum ordnet das 1992 ein, und prägt damit auch Debatten an ähnlichen Orten der Ex-DDR an, wie Buchenwald, Bautzen und Oranienburg.
Private Gedenkkreuze und -tafeln erinnern an alle Opfer
Fünfeichen wird zur Gedenkstätte umgestaltet. 1992 ein Kreuz errichtet, 2008 eine Glocke aufgestellt. Und es werden Tafeln mit den Namen der deutschen Opfer enthüllt. Private Gedenkkreuze aus den frühen 90ern werden umgesetzt. Auch die toten Soldaten bleiben im Blick. Seit 2015 gibt es auch für sie Namenstafeln. Es ist das Ergebnis mühevoller und jahrelanger Archivarbeit. Harry Schulz hilft beim Erstellen: "Wenn man sich die Sterbedaten anguckt, gab es insbesondere im Winter 1941/42 Tage, an denen über 100 sowjetische Soldaten gestorben sind."
Zum Enthüllen kommt damals auch ein Vertreter der russischen Botschaft, und die Angehörigen der sowjetischen Opfer. Fünfeichen gedenkt heute allen Menschen.
