Sexarbeit: Ein Alltag zwischen Buchhaltung und Kundenterminen
Im Rahmen einer Themenwoche über Sexarbeit in Kiel, stellt der Fotograf Tim Oehler Fotos aus, die er mit Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern im Beruf und im Alltag aufgenommen hat. Die Bilder geben tiefe Einblicke in die facettenreichen Lebensrealitäten von Sexarbeitenden.
Tim Oehler hat insgesamt 30 Menschen aus der Sexarbeit fotografiert. Sie arbeiten als Dominas, als Tantra-Masseure, Fetisch-Arzt, in einem Bordell oder in einem Strip-Club. Die Bilder, die Oehler in ihrem beruflichen Kontext gemacht hat, sind aufreizend und nackt. Er inszeniert sie so, wie sie arbeiten. Gleichzeitig stellt der 53-Jährige sie auch im privaten Umfeld dar: mal mit ihren Haustieren, mal warten sie auf ihre Kinder, mal reparieren sie ihr Fahrrad. Noch bis Sonnabend können sich Besucher die Bilder im Pop-up Pavillon in der Kieler Innenstadt ansehen.
Idee durch Pariser Straßenstrich
Auf die Idee zu diesen Bildern ist Tim Oehler 2015 gekommen. Er sah sich in einem Pariser Museum die Ausstellung "Pracht und Elend - Bilder der Prostitution" an. Oehler sah ein begeistertes Publikum. Die Menschen sahen Bildern von van Gogh oder Manet. Auf dem Rückweg, sagt der Fotograf, landete er zufällig auf einem Straßenstrich in Paris: "Dort wurde Prostitution anders wahrgenommen als noch im Museum", erklärt Oehler. Er merkte, dass an dem Thema etwas dran sei.
Job-Bezeichnung: Beraterin für Lebensfreude und sexuellen Genuss
Eine der Frauen, die der Hamburger vor der Linse hatte, ist Lydia. Lydia ist nicht ihr richtiger Name. Sie ist 43 Jahre alt und arbeitet als Sexworkerin in Leipzig. Sie selbst nennt ihren Job "Beraterin für Lebensfreude und sexuellen Genuss". Fotograf Tim Oehler hat sie im Job in Spitzenunterwäsche und Lippenstift fotografiert. Im Privaten sieht man sie beim Fernsehen auf dem Sofa mit ihren drei Katzen. Sie findet die Bilder von sich selbst schön, sagt sie. Auch die Hintergründe, warum Oehler die Fotos gemacht hat, findet Lydia unterstützenswert.
"Gesellschaftliches Bild ist schwer zu verstehen"
"Das, was ich mache, findet häufig in Ehen oder Partnerschaften nicht statt", sagt sie. Es ginge aber nicht nur um Sex. Häufig kommen Kunden auch, um Nähe, Aufmerksamkeit oder eine erotische Erfahrung zu erleben, so die 43-jährige Sexarbeiterin. Sie tut sich aber immer noch sehr schwer zu verstehen, dass das gesellschaftliche Bild über Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter im Jahr 2024 immer noch so ist, wie es ist. Sie sei eine eigenständige Geschäftsfrau und verkaufe eine Dienstleistung, die von ihren Kundinnen und Kunden angenommen werde, erklärt Lydia.
Aus Geldsorgen zur Sexarbeit
Lydia wirkt zufrieden mit ihrem Job und sagt, dass sie sich keinen anderen Beruf vorstellen könne. Mit der Sexarbeit angefangen hat Lydia vor etwa 20 Jahren. Davor hat sie eine Ausbildung zur Fachangestellten für Bürokommunikation gemacht. "Ich wäre im Prinzip im öffentlichen Dienst eine Art Sekretärin geworden", erklärt die 43-Jährige. Aus Geldsorgen habe sie mit der Sexarbeit angefangen. Lydia ist über eine Zeitungsannonce auf eine Escort-Agentur aufmerksam geworden und zu einem Kennenlerngespräch eingeladen worden. Erst nach dem ersten Gespräch wurde ihr klar, dass auch sexuelle Handlungen zum Job gehören. Sie sagt, sie sei schon damals sexuell recht offen gewesen und hat so mit der Sexarbeit recht schnell, recht viel Geld verdienen können.
Covern für die Sicherheit
Lydia trifft sich mit ihren meist männlichen Kunden entweder in einem Hotelzimmer oder in ihrer Gästewohnung. Währenddessen ist sie mit ihrem Kunden allein. Gewalt musste sie in ihrem Job noch nicht erfahren. Um sich vor einem Termin abzusichern, telefoniert sie im Vorfeld mit Neukunden. So hat sie die Telefonnummer und bekommt einen ersten Eindruck. Sie lässt eine Anzahlung machen, bevor ein Kunde die Adresse ihrer Gästewohnung bekommt. Außerdem bekommt eine Vertrauensperson von ihr immer den Kundennamen und den Ort, an dem sie sich treffen. Die Vertrauensperson und Lydia haben abgesprochen, was getan werden muss, wenn sie sich nicht nach einer bestimmten Zeit meldet. Diese Maßnahmen werden als "Covern" bezeichnet.
Abwechslungsreicher Alltag einer Selbstständigen
Wie viel Lydia in der Woche arbeitet, ist schwer zu sagen. "Wenn man es hoch rechnet, sind es bestimmt so 20 Stunden in der Woche", sagt sie. Trotzdem sei Lydia immer erreichbar für ihre Kunden und das sei für ihre Work-Life-Balance nicht gut. Viel Zeit ginge aber für die Vorbereitungen auf Termine drauf. Außerdem muss sie sich um Dinge kümmern, die viele andere Selbstständigen auch tun müssen, erklärt Lydia. So müsse sie Buchhaltung, Akquise oder Kundenkommunikation betreiben. Ihr ginge es damit aber sehr gut - auch finanziell, schmunzelt Lydia. Mit der Sexarbeit werde man zwar nicht reich, aber sie hat nach eigenen Angaben ein gutes Einkommen.
Schwieriges Gesprächsthema in der Familie
Lydia kann sehr gut damit leben, eine Sexarbeiterin zu sein - einige Familienmitglieder tun sich damit schwerer. Ihrer Mutter habe sie es nach einem Jahr Sexarbeit vor etwa 19 Jahren erzählt. Mit ihr könne sie ganz offen über ihre Arbeit sprechen. Auch die Mutter ihres Freundes wisse Bescheid. "Mit ihr ist mein Job wie der rosa Elefant im Raum", sagt Lydia. Die Mutter ihres Freundes spricht über Lydias Arbeit nicht und fragt auch nicht nach ihrem Job. Die 43-Jährige findet das schade, weil sie gerne ganz normal über ihre Arbeit reden würde - ohne Stigma. Den Großmüttern ihres Freundes hat Lydia ihren Job nicht verraten. "Die Beiden müssen wir die Aufregung ersparen", scherzt die Leipzigerin.
Themenwoche in Kiel geht weiter
Viel geredet wird über Lydias Job und alle Themen drumherum diese Woche dafür in Kiel. Organisiert wird die Themenwoche von der Fachberatungsstelle für Prostituierte aller Geschlechter Cara*SH. Neben der Ausstellung von Fotograf Tim Oehler werden auch andere Expertinnen und Experten Reden und Vorträge halten. So spricht etwa die Historikerin Mona Rudolph von der Christian Albrechts Universität zu Kiel über die Geschichte der Sexarbeit ("Historisches Dirnenunwesen", Pop-up Pavillion, Alter Markt 17, 3.10.2024, 18 Uhr). Am Sonnabend gibt es ein "Ask a Sexworker" mit Ruby Rebelde (Pop-up Pavillion, Alter Markt 17, 5.10.2024, 18 Uhr). Die Sexarbeiterin aus Berlin macht neben der Sexarbeit auch Vorträge, Trainings und Beratungen. Ein besonderes Anliegen sind ihr bei ihren Vorträgen Antidiskriminierung, intersektionärer Feminismus und Rechtsextremismus.