Experte: "Alkohol gehört zu den Top Ten der Krebsauslöser"
Alkoholische Getränke können süchtig machen. Etwa zwei Millionen Erwachsene in Deutschland sind alkoholabhängig, viele weitere trinken zu viel. Doch auch ohne extremen Konsum kann Alkohol zahlreiche Krankheiten verursachen. Er ist krebserregend und kann unter anderem Leber oder Herz schädigen. Im Interview erklärt der renommierte Alkoholforscher Prof. Helmut Seitz, welche Krankheiten drohen und was Betroffene tun können.
Wie gefährlich ist Alkohol tatsächlich?
Prof. Helmut Seitz: Über 200 Erkrankungen entstehen durch Alkoholkonsum. Alkohol kann die Bauchspeicheldrüse schädigen, das Herz, das zentrale und periphere Nervensystem und die Muskulatur. Im Verlauf eines länger andauernden Alkoholmissbrauchs kann es auch zu psychischen Beeinträchtigungen kommen. Das können häufige Stimmungsschwankungen, Angstzustände, Depressionen sein bis hin zu einer Suizidgefährdung. Besonders gefährdet ist natürlich die Leber, wo der Alkohol hauptsächlich verstoffwechselt, also abgebaut wird: Fünfzig Prozent aller alkoholbedingten Todesfälle sind durch die Leber bedingt.
Und es ist leider noch immer nicht bei allen Menschen angekommen: Alkohol ist krebserregend! Alkohol gehört zu den "Top Ten" der Stoffe, die Krebs auslösen.
Mehr als 20.000 Krebsneuerkrankungen sind in Deutschland im Jahr 2022 Schätzungen zufolge auf den Konsum von Alkohol zurückzuführen. Der Anteil der mit Alkohol assoziierten Todesfälle für Krebserkrankungen im Bereich der Mundhöhle, des Rachens, des Kehlkopfes und der Speiseröhre liegt bei 23 bis 30 Prozent, der Anteil bei Darm- und Brustkrebs bei zehn Prozent. Betrachtet man allerdings die Häufigkeit von Darmkrebs und Brustkrebs in Deutschland, so spielt hier Alkohol eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Wodurch genau schadet Alkohol?
Seitz: Der Alkohol selber, also das Ethanol, ist gar nicht so gefährlich. Gefährlich sind die Abbauprodukte von Alkohol - allen voran Acetaldehyd: Das ist hochtoxisch und eben, das ist wissenschaftlich eindeutig belegt, krebserregend.
Zwar kann die Leber Acetaldehyd eigentlich umwandeln in ein harmloses Essigsäuremolekül, aber bei zu viel Acetaldehyd kommt die Leber einfach nicht mehr hinterher. Acetaldehyd entsteht übrigens außerdem auch im Mund: Die Bakterien dort verstoffwechseln Alkohol zu Acetaldehyd - dadurch kann Alkoholkonsum auch zu Mund-, Kehlkopf- oder Speiseröhrenkrebs führen.
Neben dem Acetaldehyd sind freie Radikale im Alkohol ein großes gesundheitliches Risiko: Diese Sauerstoffmoleküle binden sich an andere Moleküle - leider auch an die Erbsubstanz - und richten dort Schaden an.
Acetaldehyd und freie Radikale sind nur die toxischen Komponenten des Alkoholkonsums. Daneben gibt es noch weitere gesundheitsschädigende Mechanismen. Nebenprodukte beim Alkoholabbau können zum Beispiel Lebererkrankungen wie eine Fettleber verursachen.
Trinken wir in Deutschland zu viel Alkohol?
Seitz: Wir haben acht Millionen Menschen in Deutschland mit einem gesundheitlich riskanten Alkoholkonsum, zwei Millionen Menschen sind alkoholabhängig. Das sind erschreckend hohe Zahlen und sie bedeuten ganz eindeutig, dass in unserer Gesellschaft insgesamt zu viel getrunken wird. Die Italiener, die zum Beispiel ja bekannt sind für ihre Weinkultur, trinken im Vergleich jährlich zwei Liter reinen Alkohol pro Kopf weniger als wir Deutschen. Wir liegen zum Beispiel auch vor Russland. Also: Insgesamt sind wir beim Alkoholkonsum weltweit leider ganz vorne.
Aus welchen Gründen trinken Menschen Alkohol?
Seitz: Das Trinkverhalten hat sich geändert: In unserer heutigen Zeit ist der Stress groß, wir sind 24 Stunden online, stehen unter Erwartungs- und Erfolgsdruck. Und wie werde ich den Druck los? Ich kann natürlich joggen, das wäre sinnvoll und das tun auch viele. Aber viele trinken eben Alkohol, um sich zu entspannen. Das ist auch einfach, weil Alkohol bei uns stark akzeptiert ist. Es besteht bei vielen sozialen Gelegenheiten fast schon ein Druck, mitzutrinken. Und Kindern wird Alkohol in vielen Familien als "normal" vorgelebt, sie wachsen praktisch hinein in den Alkoholkonsum.
Außerdem: In unserer Gesellschaft, die sozial vielleicht etwas "kühler" ist, sind viele Menschen einsam, gerade auch alte Menschen. Und da greifen einige dann zum Alkohol, um ihre Gefühle zu betäuben.
Wie viel Alkohol darf man denn trinken?
Seitz: Wir wissen heute: Auch bei geringen Trinkmengen besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Krankheiten und vorzeitigen Tod im Vergleich zu Menschen, die ohne Alkohol leben. Methodisch unzureichende Studien haben in der Vergangenheit immer mal wieder dazu geführt, dass moderater Alkoholkonsum als potenziell gesundheitsfördernd bezeichnet wurde - das ist wissenschaftlich widerlegt.
Wer ein oder zwei Mal die Woche ein Glas Bier oder Wein trinkt, braucht sich in der Regel zwar keine Sorgen zu machen. Man sollte aber immer vorsichtig und wachsam bleiben: Aus einem täglichen Feierabendbier werden schnell mal zwei oder drei. Und nach ein paar Monaten merkt man, wenn man denn ehrlich zu sich ist: Man kommt nicht mehr weg davon, ist abhängig.
Ist Alkohol für jeden Menschen gleich gefährlich?
Seitz: Jeder Mensch hat ein individuelles Risiko - das bedeutet: Manche sind bereits bei kleinsten Mengen Alkohol gefährdet. Bestimmte genetische Faktoren können zum Beispiel dazu führen, dass der Abbau des Acetaldehyds in der Leber nicht gut oder gar nicht funktioniert. Außerdem ist bei einer Vielzahl an Vorerkrankungen oder auch bei Einnahme bestimmter Medikamente Alkohol extrem gefährlich. Besonders relevant sind da natürlich Lebererkrankungen - und die sind den Betroffenen häufig gar nicht bewusst.
Für ältere Menschen ist Alkohol gefährlicher, weil der Stoffwechsel und damit der Alkoholabbau, wie alle Funktionen im Körper, im Alter schlechter wird. Die Enzyme, die für den Abbau verantwortlich sind, werden weniger.
Frauen scheinen allgemein gefährdeter?
Seitz: Alkohol schädigt Frauen grundsätzlich schneller und extremer als Männer. Ein Beispiel: Wenn man es auf zehn, zwanzig Jahre hochrechnet, bekommen Frauen bei der Hälfte Alkohol in der Hälfte der Zeit einen Leberschaden.
Warum das so ist, weiß man noch nicht ganz genau. Eine Rolle spielt sehr wahrscheinlich, dass Frauen weniger Körperflüssigkeit haben und dadurch bei gleicher Menge Alkoholzufuhr pro Kilogramm Körpergewicht der Alkoholspiegel höher ist. Der zweite Grund liegt wohl in einer Störung des Alkoholstoffwechsels im Magen: Bis zu acht Prozent des Stoffwechsels von Alkohol geschieht im Magen und Frauen sind dabei wesentlich schlechter aufgestellt als Männer. Ein dritter Punkt hat mit dem Östrogen der Frauen zu tun: Alkohol behindert in den Wechseljahren den Abbau von Östrogen. Östrogene können dann erstens in der Leber zu Fett umgewandelt werden und zweitens führt ein höherer Östrogenspiegel zu einem erhöhten Risiko für Brustkrebs.
Was kann ich tun, wenn ich süchtig bin?
Seitz: Bei einer Abhängigkeit muss der Patient eine Entzugstherapie machen - und die geht eigentlich nur stationär. Heute gibt es den sogenannten qualifizierten Entzug, das sind drei Wochen im Krankenhaus. Man kann diese Zeit gegebenenfalls auch verkürzen auf sieben bis zehn Tage. Bei der Entzugstherapie wird Alkohol komplett wegelassen - und gleichzeitig eine Beruhigungssubstanz als Ersatz gegeben. Diese Substanz wird dann langsam ausgeschlichen, also abgesetzt. Dann ist der Patient "clean", entgiftet. Aber das große Problem ist natürlich: Wie bleibt man entgiftet, wie fällt man nicht wieder zurück? Wichtig für einen erfolgreichen Weg aus der Abhängigkeit ist ein zweiter Schritt: die Entwöhnungstherapie. Das ist im Großen und Ganzen eine Gesprächstherapie.
Was würde helfen, um den im internationalen Vergleich hohen Alkoholkonsum in Deutschland zu senken?
Seitz: Ich denke hier wären drei Dinge wichtig: Erstens sollten wir auf Werbung im öffentlichen Bereich verzichten. Auf Werbung sprechen sehr viele junge Menschen an, die sollten wir schützen. Zweitens, und das haben uns die Skandinavier gezeigt, sollte man die Verfügbarkeit von Alkohol einschränken. Zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens muss man nicht Alkohol an Autobahnen oder Tankstellen kaufen können - Tankstellen und Alkohol passen grundsätzlich nicht gut zusammen. Wenn Alkohol nicht ständig verfügbar ist, dann trinken die meisten Menschen auch weniger.
Und das dritte: Man sollte den Alkohol höher besteuern. Wir haben zum Beispiel in Deutschland eine historische Tradition, dass Wein nicht besteuert wird. Wenn wie in Skandinavien ein Wein zehn Euro kostet, überlegt sich mancher dann doch, wie viele Gläser er bestellt. Eine höhere Besteuerung würde auch Sinn machen, weil wir als Gesellschaft den Alkohol sehr teuer bezahlen: Wenn ich sehe, dass wir insgesamt durch die Alkoholsteuer in Deutschland drei Milliarden einnehmen und gleichzeitig für die Alkoholfolgekrankheiten jährlich weit über 50 Milliarden Euro pro Jahr ausgeben müssen, dann ist das eine ungesunde Diskrepanz.
Das Interview führte Tina Roth