Deutscher Buchpreis: Die Top 20 der NDR Kultur Literaturredaktion
Seit dem 20. August steht die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2024 fest. Die NDR Kultur-Literaturredaktion hatte vorab ihre 20 Favoriten gekürt - von Marica Bodrožić bis Caroline Wahl.
Welche Bücher schaffen es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises? Die NDR Kultur Literaturredaktion hatte sich Gedanken gemacht - und eine eigene Longlist mit 20 herausragenden Titeln erstellt.
Marica Bodrožić: "Das Herzflorett"
Schon in früheren Büchern hat uns Marica Bodrožić von ihrer dalmatinischen Kindheit erzählt und von ihrer Übersiedlung nach Deutschland. Ihr neuer Roman "Das Herzflorett" ist die Wurzel und zugleich die Potenz ihrer bisherigen Erzählkunst. Die Traumata einer Kindheit finden einen Ausweg in der Zauberkraft der Sprache. Eine an tiefsitzenden Verletzungen reiche Gegenwart braucht Bücher wie "Das Herzflorett".
Nora Bossong: "Reichskanzlerplatz"
Man möchte zunächst aufheulen und rufen: nein, bloß keinen Roman über Magda Goebbels! Haben wir nicht schon genug von dieser Monster-Mutter aus dem Dritten Reich gelesen und gehört? Und hat nicht Marcel Beyer mit seinem Roman "Flughunde" bereits 1995 alles literarisch Verwertbare über diese Frau geschrieben? Weit gefehlt! Nora Bossong beweist das Gegenteil. Außerdem ist Magda Goebbels bei ihr nur eine von mehreren Protagonisten. Der Ich-Erzähler schildert präzise den allmählichen Verfall einer Demokratie, die Verflechtungen von Politik und Wirtschaft, die durch die Geschichte der Familie Quandt bis in unsere Gegenwart reicht. Bei Nora Bossong ist Literatur immer auch politische Bildung.
Alina Bronsky: "Pi mal Daumen"
Oscar und Moni könnten unterschiedlicher nicht sein, aber beide studieren Mathematik. Oscar gilt mit 16 als hochbegabt, Moni hat bereits drei Enkel und möchte sich an der Uni noch mal neu erfinden. Alina Bronsky hat ein Händchen für gute Geschichten, die sie gerne mit eine Prise Humor würzt - für Unterhaltung mit Niveau und Herz.
Arno Geiger: "Reise nach Laredo"
Dieses Buch ist ein Traum, im wahren Sinne des Wortes. Der Held: Karl V., ein moribunder Mann, der auf sein Ende wartet. Doch kraft der Fantasie wächst er noch einmal über sich hinaus und erfährt endlich Menschlichkeit, das wahre Leben und mit ihm Freundschaft und Liebe. Ein magisch-historischer Roman voller Wunder.
Paula Irmschler: "Alles immer wegen damals "
"Familie heißt Lügen bis spät in der Nacht": Frieda, Fritz, Mascha und Karla sind die Kinder von Gerda, die gerade von Wolfgang verlassen wurde. Karla ist seit Jahren in Köln und vermeidet den Kontakt. Doch dann wird Gerda 60, und es könnte ja eine Versöhnung dabei herauskommen. Eine Ost-West-Familiengeschichte, flott und mit Groove erzählt, Soundtrack inklusive!
Matthias Jügler: "Maifliegenzeit"
Maifliegen kommen ganz natürlich an der Unstrut vor, ein wunderbares Naturspektakel. Dort findet Hans Trost beim Angeln, nachdem sein Sohn kurz nach der Geburt angeblich gestorben ist. Oder doch nicht? Das Buch beruht auf einer wahren Begebenheit, ist also reale DDR-Geschichte. Die einfühlsame Erzählung einer verzweifelten Suche.
Rasha Khayat: "Ich komme nicht zurück"
Das Ruhrgebiet in den 1980er-Jahren: Hier leben Menschen unterschiedlicher Herkunft. Hanna, Zeyna und Cem sind dicke Freunde - ihr kultureller Hintergrund scheint keine Rolle zu spielen. Doch dann kommt der 11. September 2001, und alles wird anders! Was kann Freundschaft überstehen? Rasha Khayat erzählt ihre Geschichte poetisch und zu Herzen gehend.
Bodo Kirchhoff: "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt"
Mit welchem Tier teilt L.A. Schongauer, früher düsterer Deutscher in Hollywood-Filmen, seinen Lebensabend am Gardasee? Mit dem Hund, den er sich zugelegt hat? Oder dem Tier in sich, das wieder erwacht, als zwei jüngere Frauen in sein Einsiedlerleben treten. Der Männerversteher Bodo Kirchhoff at its best!
Michael Köhlmeier: "Das Philosophenschiff"
Als die Sowjetmacht in den 1920er-Jahren noch nicht sicher im Sattel saß, waren die "Philosophenschiffe" ein Mittel der Machtkonsolidierung, mit dem sie sich unliebsame Personen vom Hals schaffte. Die hundertjährige berühmte Architektin zitiert den Schriftsteller herbei und erzählt ihm ihre abenteuerliche Lebensgeschichte, auf dass er ein Buch draus mache. Historische Realität und Fiktion fließen ineinander - vom Feinsten!
Daniela Krien: "Mein drittes Leben"
Wie kann das Leben nach einem schweren Schicksalsschlag wieder leicht werden? Dieser Frage geht Daniela Krien in ihrem Roman nach. Im Mittelpunkt steht Linda, die alles verloren zu haben scheint - außer ihrem Mann Richard und der Hündin. Daniela Krien ist eine genaue Beobachterin des Lebens: feinfühlig, ohne sentimental zu sein.
Ulla Lenze: "Das Wohlbefinden"
Manchmal braucht es mehrere Generationen, um die Verstrickungen der Vergangenheit wieder zu lösen. Davon erzählt Ulla Lenze in ihrem neuen Roman "Wohlbefinden". Sie führt uns dabei in die Kaiserzeit nach Beelitz in eine Lungenheilanstalt. Hier begegnen sich eine Fabrikarbeiterin und eine Schriftstellerin, die gemeinsam eine Leidenschaft fürs Okkulte entwickeln. Die Literatur soll Licht ins Dunkel bringen. Aber erst drei Generationen später gelingt es. Lenzes findet für ihre Geschichte eine glänzende sprachliche Form, in der die verschiedenen Zeitebenen spannungsreich ineinandergeflochten sind.
Thea Mengeler: "Nach den Fähren"
Früher wurde die Insel im Süden von Touristen überrannt. Seit keine Fähren mehr kommen, verfallen die Zurückgebliebenen zusehends in Einsamkeit - so geschäftig sie sich auch geben. "Nach den Fähren" ist eine kunstvoll-kluge Allegorie auf das Leben. Es dröhnt darin die Melancholie des Seins. In aller Stille.
Clemens Meyer: "Die Projektoren"
Alles ist mit allem verbunden: gerade in Europa. Clemens Meyers Buch spielt sowohl in Leipzig als auch in Ex-Jugoslawien und handelt von Winnetou-Filme ebenso wie von Neonazis. Allerdings braucht man für seinen Roman Durchhaltevermögen, denn das Buch ist über 1.000 Seiten stark. Aber da Clemens Meyer ein großartiger Erzähler ist, wird es definitiv nicht langweilig.
Stefanie vor Schulte: "Das dünne Pferd"
Erst wissen sie die Namen ihrer Kinder nicht mehr; etwas später haben sie auch vergessen, dass sie überhaupt welche haben. Die nahezu pandemische Vergesslichkeit zeigt an: Die Menschheit ist erschöpft, ihre Tage scheinen gezählt, müde taumelt sie in den Untergang. Sehr komisch und einfühlsam erzählt die Hannoversche Autorin Stefanie vor Schulte von Aria und Marion, die allen Mut zusammennehmen für den Kampf um Würde und - vielleicht ja doch - so etwas wie Zukunft.
Frank Schulz: "Amor gegen Goliath"
Frank Schulz, der große Sprachartist aus Stade bzw. Hamburg bzw. Osnabrück - der Deutsche Buchpreis ist sowieso schon lange mal für ihn fällig. Sein neuer Roman darf die Fälligkeit gern einlösen: "Amor gegen Goliath" ist ein aberwitziges Schauspiel um Klima-, Liebes- und sonstige Katastrophen.
Saša Stanišić: "Möchte die Witwe.."
Wenn man so gut ist wie Saša Stanišić, darf man den Deutschen Buchpreis natürlich auch ein zweites Mal bekommen. Sein neuer Erzählungsband - der durch vielfältige innere Verschränkungen tatsächlich zum Roman wird - ist ein Meisterwerk. Man weint beim Lesen fortwährend: vor Rührung, vor Trauer, vor Lachen.
Dana von Suffrin: "Nochmal von vorne"
Dana von Suffrin kann als Erzählerin einfach alles - zu diesem Schluss muss man nach Lektüre ihres zweiten Romans endgültig kommen. "Nochmal von vorne" ist - wie schon ihr fulminantes Debüt "Otto" - vordergründig eine deutsch-jüdische Familiengeschichte, hintergründig aber einfach eine urkomische, todtraurige, komplett verrückte und damit ganz normale Erzählung vom Versuch, dem Chaos namens Leben irgendeinen ordnenden Sinn abzutrotzen.
Jackie Thomae: "Glück"
"Sie hatten ein Vierteljahrhundert Zeit", hält ihr die Frauenärztin vor. Aber der Wunsch nach einem Kind - er wird bei Marie-Claire eben erst jetzt so richtig drängend, kurz vor ihrem 40. Geburtstag. Ist es nun zu spät - zu spät für ein glückliches Leben? Mit der Lakonie, der Komik und der bohrenden Melancholie, die schon ihren Roman "Brüder" so umwerfend gemacht haben, legt Jackie Thome wieder ein sehr preiswürdiges Buch vor.
Caroline Wahl: "Windstärke 17"
Nach ihrem Sensationserfolg "22 Bahnen" fegt Caroline Wahl jetzt mit "Windstärke 17" über die Literaturlandschaft hinweg. Diesmal sucht Ida, die kleine Schwester aus "22 Bahnen", nach ihrem Platz im Leben: orientierungslos, ungeschliffen, sensibel, verletzlich. Ein Coming-of-Age-Roman mit extremer Sogwirkung!
Zara Zerbe: "Phytopia Plus"
Schon wieder eine Dystopie, aber die ist wirklich gut und originell! Die Hamburger Autorin Zara Zerbe denkt sich einen Alltag unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Klimakrise aus, und so düster das alles ist, so humorvoll, lebhaft und gewitzt erzählt sie davon. Der Phantastikpreis der Stadt Wetzlar muss beileibe nicht die einzige Auszeichnung für diesen Roman bleiben.