Michael Köhlmeiers "Das Philosophenschiff": Deportation ins Exil
Der Roman "Das Philosophenschiff" spielt in der Zeit nach der bolschewistischen Revolution. Michael Köhlmeier ist damit ein weiteres Prachtstück seines gedanken- und geistreichen literarischen Könnens gelungen.
Philosophenschiffe - das ist die in der Nachzeit entstandene Bezeichnung für jene Schiffe, mit denen die neue bolschewistische Sowjetunion unter Lenin 1922 missliebige Intellektuelle außer Landes brachte. Es waren also nichts mehr und nichts weniger als Deportationen mit dem Passagierdampfer. Um ein solches Schiff geht es im neuen Roman des österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier.
Eine Atmosphäre der inneren Lähmung
Fünf Tage lang liegt das titelgebende Schiff still auf offener See. An Bord herrscht unter den gerade mal zwölf Passagieren, alles des Landes verwiesene russische Intellektuelle, eine Atmosphäre der inneren Lähmung. So berichtet es die Protagonistin des Romans, Anouk Perlemann-Jacob, in St. Petersburg geborene einstige Erfolgsarchitektin, ihrem einzigen Zuhörer, dem Schriftsteller Köhlmeier - ja der Autor macht sich selbst zur Romanfigur. Anouk - so ist die Konstruktion der Geschichte - hat Köhlmeier anlässlich ihres 100. Geburtstags zu sich gebeten, um einen Teil ihrer Lebensgeschichte aufschreiben zu lassen, den bislang noch niemand kenne. Denn sie war als 14-Jährige mit ihren Eltern genau auf diesem Schiff, auf dem niemand wusste, was hier eigentlich genau geschieht und ob sie nicht doch noch - wie so viele andere vorher - erschossen werden sollten:
Dass wegen so einem Häufchen dieses unvergleichliche Luxusschiff in Bewegung gesetzt wurde - wer sollte das glauben? Ich vermutete schon damals, dass diese Undenkbarkeit uns, die wir in den Kabinen der 3. Klasse untergebracht waren, mehr bedrückte als alles andere, was um uns herum geschah. Was hatte das zu bedeuten? Hatte es überhaupt etwas zu bedeuten? Aber niemand traute sich, diese Fragen auszusprechen. Aus Angst, jemand könnte die Antwort kennen. Leseprobe
Köhlmeier: Geschichte lässt sich nur durch Geschichten von Menschen erzählen
Der Bericht von den Geschehnissen dieser Tage ist das, was den Roman im Innersten zusammenhält - und ihm einen Teil seiner Hochspannung verleiht. Zusätzlich angesteckt durch die massive Verunsicherung der Menschen an Bord darüber, was der eigentliche Grund ihrer offenbar stattfindenden Verbannung ist. Dieser Frage forscht nun die 100-jährige Anouk im Zusammenspiel mit ihrem bestellten Autor, Köhlmeier, erneut nach - monologisch und dialogisch. Woraus sich in ständigen zeitlichen Rück- und Vorgriffen ein ganz eigenes Geschichtsbild von der Phase nach der bolschewistischen Revolution ergibt. Getreu dem Motto aus einem früheren Köhlmeier-Roman, nachdem sich Geschichte nicht als solches, sondern nur Geschichten von Menschen erzählen lassen. Hier ist es die Wirkungsgeschichte staatlichen Terrors auf eine heranwachsende Frau in den 1920er- und 1930er-Jahren. Wobei die Ereignisse an Bord noch eine Zuspitzung durch das Anlanden einer weiteren Person haben, die offenbar von großer Wichtigkeit ist, deren wahre Identität aber den Passagieren verborgen bleibt, nur Anouk selbst nicht.
Stalin erteilt Lenin eine Lektion
Köhlmeier bedient sich in diesem Roman also des Genres der historischen Fiktion. Auf gründlich recherchierter Basis - die meisten auftauchenden Figuren sind historisch belegt -, an der sich seine Imagination aber erst so recht entzündet. Das kennt man schon aus seinen früheren Romanen. So wie er beispielsweise in "Zwei Herren am Strand" eine mögliche Begegnung zwischen Churchill und Charlie Chaplin eigene Blüten treiben lässt, so kommt es hier unter anderem zu einem brillant erdachten Zusammentreffen von Lenin und Stalin, und zwar auf diesem unheimlichen Schiff. Wo die 14-jährige Anouk aus einem Versteck heraus Augen- und Ohrenzeugin dieser Begegnung wird, in der Stalin Lenin eine Lektion in Sachen Massensteuerung erteilt und ihm gleichzeitig die Ursachen seines Scheiterns vor Augen führt.
Man kann befehlen zu marschieren, man kann befehlen zu schießen, aber man kann nicht befehlen, einen Grund dafür zu denken, warum man das tun soll. Die Millionen wollen genug zu essen haben, und sie wollen befreit sein von der Freiheit. Und sie wollen kein schlechtes Gewissen haben. Leseprobe
"Das Philosophenschiff": Ein kunstvoll geflochtenes Gewebe
Schon allein die Kernhandlung dieser Erzählung lässt sich so mit Spannung und Gewinn lesen. Aber der Roman bietet ja so viel mehr. Köhlmeier hat hier ein kunstvoll geflochtenes Gewebe vorgelegt, in dem über verschiedene Erzählfäden, die stets zusammenfinden, auch über andere Themen reflektiert wird. Zum Beispiel über die Macht der Lyrik in repressiven Systemen und wiederholt über das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion, in der die Erinnerung ihren eigenen Wahrheitsanspruch reklamiert, freilich den der poetischen Wahrheit.
Auch geht es in "Das Philosophenschiff" dem Autor immer um eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun, dem Schreiben. Nicht umsonst lässt sich der Autor als Romanfigur erstehen. Michael Köhlmeier gehört nicht nur zu den größten Erzählern der Gegenwart, sondern auch zu den verschmitztesten. Kurz: Köhlmeier ist ein weiteres Prachtstück seines gedanken- und geistreichen literarischen Könnens gelungen.
Das Philosophenschiff
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-446-27942-1
- Preis:
- 24 €