NDR Buch des Monats Mai: "Windstärke 17" von Caroline Wahl
Caroline Wahls Roman "Windstärke 17" ist wie eine Netflix-Serie - eine der guten. Mit Sogwirkung und unmittelbaren Dialogen, aufgeschrieben wie in einem Drama.
Caroline Wahl aus Rostock war die literarische Durchstarterin des vergangenen Jahres: Ihr Debütroman "22 Bahnen" erzählt von Tilda und ihrer kleinen Schwester Ida, von einem Aufwachsen mit einer alkoholkranken Mutter, von der Suche nach Stabilität - und seien es auch nur die exakt 22 Bahnen, die Tilda im Freibad täglich schwimmt. Das Buch wurde ein Bestseller, vielfach ausgezeichnet. Nun erscheint Wahls zweiter Roman, ein Spin-off des ersten.
Caroline Wahl hat Idas Geschichte fortgeschrieben
Wahl ist noch auf der Suche: Sie braucht ein neues Lesetour-Outfit. Das vergangene Jahr hat sie in einer knallrosafedrigen Jacke auf den Lesebühnen und in den Buchhandlungen der Republik verbracht. "Ich mag es, wenn's knallt, also leuchtet, und Glitzer ist auch immer gut." Aber passt rosa zu ihrer neuen Geschichte? Zur wilden Ida, die mit ihrem verbeulten Hartschalenkoffer die Kindheit, die Kleinstadt, das Freibad verlässt und auf Rügen strandet? Dort Knut kennenlernt und in seiner Kneipe jobbt, bei jedem Wetter mit der Ostsee ringt und mit der Windstärke 17 in ihrem Kopf kämpft?
In mir tobt ein Sturm, ein Tornado, ein Orkan, der alle Fragen aufwirbelt, die ich immer am Boden zertrete, wenn sie auftauchen. Leseprobe
Gleich als Caroline Wahls erster Roman gedruckt wurde, hat sie weitergeschrieben und gewusst: Tildas Ausweg, deren Happy End, ist langweilig. Sie muss sich in der Fortsetzung um Ida kümmern. "Tilda ist so eine Heldin, die alles meistens richtig macht", erzählt Wahl. "Und Ida ist genau das Gegenteil, die ist so unkontrollierbar, hat so was Düsteres: Man hat Angst, dass sie so richtig Scheiße baut. Man möchte der jemanden an die Hand geben. Das hat mir beim Schreiben total Freude gebracht, mich in so eine Figur reinzuschmeißen, die Grenzen überschreitet, die so wild und wütend ist."
Schmale Sätze voller Wucht, Schmerz und Witz
Von der ersten Seite an ist man drin in dieser Geschichte, vor allem weil Caroline Wahl auch in ihrem zweiten Buch konsequent aus der Perspektive ihrer Protagonistin erzählt: Man sitzt mit ihr im Zug und beobachtet eine dieser Mütter, die ihre Erziehung wie eine lautstarke Performance zelebrieren. Oder lümmelt - auf der Suche nach der einen schönen Erinnerung - mit Ida und ihrer Mutter auf dem Sofa und schaut Frühstücksfernsehen, wo die beiden die Promis benoten. Aus Alltagsszenen werden schmale Sätze voller Wucht, Schmerz und Witz. Und immer umkreisen sie die Leerstelle in Idas Leben. Als sie nach einem Zusammenbruch von Marianne, Knuts Frau, aufgenommen wird, findet sie sich wieder in einer duftenden Küche:
Ich: "Tilda hat früher auch immer Hühnersuppe gemacht, wenn ich krank war."
Marianne schneidet die Karotten in Scheiben, während ich die Frühlingszwiebeln in Ringe schneide, und fragt nicht, wer Tilda ist.
Ich: "Meine große Schwester!"
Marianne: "Und Deine Mutter?"
Ich schüttele den Kopf. "Die kocht nicht so gut!"
Leseprobe
Jede Nacht, mehrmals, findet Ida ihre tote Mutter. In dem rot karierten Flanellpyjama, blass, mit leicht offenem Mund. Wie an dem Tag, als sie glücklich aus Prag kam. Idas Schuldgefühle lassen sie seitdem nicht schlafen, zur Beerdigung der Mutter schafft sie es nicht. Aus Idas überstürzter Flucht nach Rügen wird ein Herantasten ans Leben. Marianne stellt wenig Fragen, aber immer die richtigen. Und Idas Tage werden nach und nach strukturiert von Wald-Walking und Papageienkaffeetassen, Aufbackbrötchen und sehr viel Kuchen.
Überhaupt wird in Caroline Wahls Romanen unglaublich viel gegessen: "Weil man über Essensrituale viel über Familien aussagen kann", findet die Autorin. "Allein schon, dass man als Familie gemeinsam eine Mahlzeit einnimmt, was da auf dem Tisch ist und was man damit verbindet. Wenn ich über meine Kindheit und Jugend erzähle, komme ich nicht daran vorbei, irgendwas auch über unsere Abendbrottische zu erzählen. Deswegen kommen da immer so ein paar Eszet-Schnitten, Botinchen-Eis und Käsekuchen vor."
"Windstärke 17": Wie eine gute Netflix-Serie
Nach und nach erweitert sich das Personentableau: Ida lernt Leif kennen, Rüganer und weltweit erfolgreicher Techno-DJ - aber auch er ist vom Leben lädiert. Und die Liebe zwischen den beiden ist keine Sommerromanze, sondern ein wuchtiger Klumpen im Magen, in dem es manchmal flirrt und flattert. Caroline Wahls Roman ist wie eine Netflix-Serie - eine der guten. Mit Sogwirkung und unmittelbaren Dialogen, aufgeschrieben wie in einem Drama.
Als bei Marianne Krebs diagnostiziert wird, zieht man als Leserin aber dann doch die Augenbraue hoch und fragt sich, ob es diese eine Umdrehung zu viel ist. Denn eigentlich ist dieser Roman wieder wohltuend kitsch- und klischeefrei. Caroline Wahl hat - wie bei "22 Bahnen" - den Text in nur wenigen Monaten geschrieben. Als sie das gedruckte Buch mit dem grün-blau-schwarzen, wilden Meer auf dem Cover in den Händen hielt, war das Autorinnenglück groß: "Ich habe letztens das Ende gelesen und habe über mich selbst geheult. Dann dachte ich: Das ist so unsympathisch, dass du jetzt gerührt bist vom Ende oder dass du heulst wie ein Schlosshund, weil es ja von dir selbst erfunden ist! Als die am Friedhof bei der Mutter sind, da dachte ich: Haste gut gemacht, Caro - Schulterklopfer!"
Amazon hat den Roman in die Kategorie "Arztromane" einsortiert - das freut Caroline Wahl diebisch. "Windstärke 17" ist allerdings frei von Bergdoktoren-Vibes und Arztkitteln. Der Roman knallt, leuchtet und ein bisschen Glitzer schimmert da auch in der unruhigen See. Fehlt nur noch das richtige Lesetour-Outfit.
Windstärke 17
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Dumont
- Bestellnummer:
- 978-3-8321-6841-4
- Preis:
- 24 €