NDR Buch des Monats Juni: "Möchte die Witwe ..." von Saša Stanišić
Der Hamburger Autor Saša Stanišić erzählt in "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne" von Menschen, die im Leben irgendwie klarkommen müssen und klarkommen wollen.
Darin sind wir uns doch alle einig: Eigentlich ist es gut, Gemüse zu essen, und gut, nicht in die Zukunft schauen zu können. Damit man gesund bleibt und sich überraschen lassen kann. Klingt vernünftig - aber irgendwie auch undemokratisch: Jeder soll doch selbst entscheiden können!
Die Aussicht auf ein besseres Leben
Es ist Sommer 1994. Vier Freunde, "Ausländerjungs in Deutschland", denen nach eigener Prognose eine "Kackzukunft" winkt, treffen sich in den Weinbergen, und Fatih entwickelt einen Plan:
Wie super wäre es, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? Du gehst in den rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft? Wie bei Deichmann, nur nicht mit Schuhen, sondern mit dem Schicksal. Kostenpunkt: hundertdreißig Mark. Falls dir dann gefällt, was du siehst, kannst du es direkt einloggen und dich gleich darauf freuen, weil diese zehn Minuten werden hundertpro irgendwann kommen. Das Einloggen kostet hundertdreißigtausend Mark. Leseprobe
An dem Punkt wird's natürlich heikel, wer kann sich das denn leisten? Aber vielleicht reicht ja schon die Aussicht auf ein besseres Leben - Fatihs Plan ist wirklich bis ins Letzte durchdacht:
Ihr strengt euch an, damit diese Zukunft eine größere Chance hat, einzutreffen! Ihr fresst nur noch Brokkoli und Nüsse und trinkt nur noch Wein und Olivenöl wie die Griechen. Ihr werdet freundlicher zu allen, weil man weiß, weniger assi zu sein, verbessert die Lebensqualität. Schon seid ihr gesünder und glücklicher, ganz ohne den Proberaum! Leseprobe
Proberäume fürs Leben
"Neue Heimat" heißt die erste der neuen Geschichten von Saša Stanišić, die man, so der Hinweis ganz am Beginn, "bitte der Reihe nach lesen" soll. Man denkt zunächst an einen kleinen Scherz, der Autor ist ja immerhin ein Meister in der Kunst, das Publikum mit beiläufig Verschmitztem aufs Glatteis zu führen. Aber weil wir ja gerade eben gelernt haben, "freundlicher zu allen" zu sein - also auch zum Erzähler -, folgen wir seiner Bitte, und, wie gesagt, das "verbessert die Lebensqualität". Nach und nach und aufreizend subtil decken die Erzählungen auf, dass sie alle irgendwie miteinander zusammenhängen in ihren Figurenkonstellationen, ihren zeitlichen Abläufen zwischen Bosnienkrieg und unmittelbarer Gegenwart, im Experimentieren mit den Proberäumen fürs Leben und sowieso natürlich in der großen Frage, die sich alle hier stellen: Wo komme ich her, wo gehöre ich hin?
"Das ist so ein universelles Thema, das gab's auch schon bei Goethe und Schiller", erzählt Stanišić. "Bei Heine zum Beispiel, der auch eine große Rolle in meinem neuen Buch spielt, war das Thema der Identität, der Herkunft, der Zugehörigkeit sehr groß. Der Mensch ist einfach so: Wir machen uns Gedanken über unsere Ursprünge, unsere Werdegänge, unsere Zukünfte, die auch zur Herkunft dazugehören, dass es die Literatur niemals loslassen wird."
Stanišićs Ton: Ungekünstelt aber hochkünstlerisch
Alle schreiben also darüber, aber keiner so wie Saša Stanišić: Der Ton, den er in die deutsche Gegenwartsliteratur eingebracht hat, ist einzigartig - ganz ungekünstelt, aber hochkünstlerisch, verspielt und traurig, zart und zupackend. Seine Prosa durchlüftet die Gedanken. In der Titelerzählung besucht Gisel das Grab ihres vor vier Jahren verstorbenen Mannes; natürlich hat sie sich daran gewöhnt, dass er nicht mehr da ist, aber manchmal überflutet sie die Wehmut, dann wünscht sie ihn sich her, wünscht sich, mit ihm streiten zu können, und dass er sich für irgendwas entschuldigt. Kann man schöner von der Liebe erzählen?
Einem geliebten Menschen böse zu sein, sollte niemandem schwerfallen. Beide schweigen dann eine Weile, oder einer geht Holz hacken, der andere Zugvögel gucken, oder was man halt gerne macht, und schon hat man Kraft, um einander wieder wohlgesonnen zu sein. Und sich auch wieder zu streiten, wenn es sein muss, ja. Leseprobe
Ein Buch über "normale Leute"
Stanišićs Figuren sind keine Abenteurer, keine Helden, keine Stars, sie leben unglamourös ihr Leben in Winsen an der Luhe, in Heidelberg, in Bremen und in der Lüneburger Heide. Sie wissen, dass es für sie kein Goldenes Buch gibt, in das sie sich eintragen könnten, aber vielleicht ein Silbernes Buch für "normale Leute", die einfach "sind und sonst nichts" und sich fragen, was noch kommen mag. Wenn Ihnen also im Proberaum fürs Leben eine Zukunft erscheint, in der Sie ein Buch von Saša Stanišić lesen: unbedingt sofort einloggen!
Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Luchterhand
- Bestellnummer:
- 978-3-630-87768-6
- Preis:
- 24 €