Saša Stanišić: "Herkunft interessiert mich auf ganz vielen Ebenen"
2019 gewann Saša Stanišić für seinen Roman "Herkunft" den Deutschen Buchpreis. Das Thema beschäftigt den aus Bosnien stammenden und in Hamburg lebenden Autor immer wieder - auch in den Erzählungen seines neuen Buchs.
Gleich die erste Erzählung in Ihrem neuen Buch heißt "Neue Heimat" - die einzige biografische Geschichte des Buches. Da geht es um vier Jugendliche mit migrantischem Hintergrund, die mit ihrer Erfindung einen Blick in die Zukunft riskieren wollen. Wenn Sie einen erfolgreichen Schriftsteller in der Zukunft gesehen hätten, was hätten Sie gedacht?
Saša Stanišić: Ich hätte mich wahrscheinlich nicht als Schriftsteller gesehen, damals, mit 14 Jahren, und in diesen prekären Lebensverhältnissen: gerade als Geflüchteter nach Deutschland gekommen und die deutsche Sprache gelernt. Allerdings stimmt schon eine Sache mit diesem Zukunftswunsch überein: Ich wollte Schriftsteller werden. Ich habe schon davor ein bisschen geschrieben und meine ersten kleinen Geschichten auf Serbokroatisch geschrieben. Man stellt sich in der Situation eher etwas für den Alltag vor und weniger für die weite Zukunft. Wir haben quasi von Woche zu Woche gedacht. Wenn ich mich als 45-jährigen Schriftsteller gesehen hätte, dann hätte ich gesagt: Nein, das ist auf jeden Fall eine total privat Utopie und das wird sich niemals erfüllen. Aber ein Wunsch war es.
Es gilt allgemein viel um Begriffe wie Heimat oder Herkunft. Was bedeuten diese Begriffe für Sie?
Stanišić: Verschieden. Im Grunde ist Heimat ein Begriff, mit dem ich mich, was meine Texte angeht, immer wieder beschäftigt habe im Zusammenhang mit meiner eigenen Biografie, die ebenso zweigeteilt ist zwischen einem Leben als Kind in dem damaligen Jugoslawien und einem Leben als Heranwachsender und Erwachsener hier in Deutschland. Und die Frage: Was gehört dazu, um irgendwo zu Hause zu sein? Das was die meisten Menschen mit dem Begriff Heimat umtreibt, ist: Wo bin ich eigentlich als Mensch zu Hause, als Person, als Vater, Mutter. Das versuche ich nicht nur für mich selbst auszuloten, sondern durch meine Bücher auch in anderen Lebenssphären.
Ich war eine Zeitlang in Brandenburg und habe mich dort mit Menschen unterhalten und ein Buch geschrieben, in dem es darum geht, was Menschen, die in der Provinz leben, mit dem Begriff Heimat verbinden, wie sie sich die Heimat erzählen und wie jemandem, der wie ich dazukommt. Ich habe in Jugoslawien sehr viel mit Menschen, die geflüchtet sind, darüber gesprochen, was für so jemanden Heimat ist, der dort, wo er geboren und mit der Sprache aufgewachsen ist, nicht mehr lebt. Der Begriff interessiert mich auf ganz vielen Ebenen und aus ganz vielen Perspektiven. Und Herkunft als soziale Herkunft, finanzielle Herkunft, aber auch genetische Herkunft, das ist so ein schöner, komplexer und vielschichtiger Begriff und bietet für einen Schriftsteller vielschichtige Erzählmöglichkeiten.
"Herkunft" heißt auch das Buch, mit dem sie 2019 den Deutschen Buchpreis bekommen haben. Man fragt sich in Interviews: Stellt man die Frage nach Begriffen wie Heimat und Herkunft oder widerspricht das einer Normalität? Geht es Ihnen manchmal auch auf die Nerven?
Stanišić: Nein, eigentlich nicht. Wir leben in einer Welt, in der Identität - und das ist das Verbindende zwischen diesen beiden Begriffen - eine ganz große Rolle spielt. In der Politik sehen wir es ständig, wir sehen in persönlichen Gesprächen - woher kommen wir eigentlich und wo wollen wir hin? -, dass das Themen sind, die uns privat auch umtreiben. Deswegen finde ich es als Schriftsteller überhaupt nicht nervig, immer wieder darüber nachzudenken - nicht nur persönlich, sondern auch in Gesprächen mit anderen.
In Mannheim zum Beispiel gab es eine sehr schöne Aufführung über Herkunft, und dort haben die Schauspieler ihre eigenen Herkünfte auf die Bühne gebracht und haben sie neben meine gestellt, um zu zeigen, was dieser banale, eigentlich komplexe und sehr schöne, vielschichtige Begriff auf die Beine stellen kann, und fünf Menschen zusammenkommen, die von woanders stammen und ganz anders aufgewachsen sind. Sie stehen nebeneinander, und man merkt, wie sehr viele Erzählungen dessen, dass Herkunft eine eindimensionale Sache ist, einfach versanden müssten, aber leider in unserer Gesellschaft nicht versanden, sondern daraus das große Politikum gemacht wird. Mich nervt es nicht. Im Gegenteil: Ich finde es sogar notwendig, darüber immer wieder nachzudenken.
In den letzten Jahren gibt es viele Bücher, in denen es um die eigene Herkunft oder die Herkunft der Familie geht, wie "Dschinns" von Fatma Aydemir, "Unser Deutschlandmärchen" von Dinçer Güçyeter oder "Sibir" von Sabrina Janesch. Wird das Thema Herkunft insgesamt sichtbarer?
Stanišić: Ich denke, das ist schon seit Jahren der Fall. 2006 habe ich mein erstes Buch veröffentlicht, das das Thema berührt, und da gab es schon die ersten Versuche, das in Worte zu fassen. Aber wenn wir zurückschauen in die sogenannte Migrantenliteratur der 70er- und 80er-Jahre, die heute leider fast unsichtbar geworden ist, machen sich auch da sehr viele Hinzugezogene Gedanken: Wo gehöre ich hin? Wo bin ich jetzt? Wie behandelt mich das Land, in das ich als Gastarbeiter gekommen bin? Das ist so ein universelles Thema, das gab es immer schon, auch schon bei Goethe und bei Schiller. Auch bei Heyne, der in meinem neuen Buch eine große Rolle spielt, war das Thema der Identität, der Herkunft, der Zugehörigkeit sehr groß. Das ist ein Thema, das gar nicht so sehr von Zeitgeist oder Gesellschaftsumgang abhängig ist, sondern das wird uns immer wieder begleiten. Ich glaube, der Mensch ist einfach so: Wir machen uns Gedanken über unsere Ursprünge, über unsere Werdegänge, über unsere Zukünfte, die auch zur Herkunft dazugehören, sodass das die Literatur niemals loslassen wird.
Das Thema Herkunft war neulich in den Schlagzeilen, als zwei Autorinnen, die in einer Jury für einen Literaturpreis waren, in einem Artikel in der "Zeit" öffentlich gemacht haben, wie es in dieser Jury zuging, dass es da nicht vor allem um literarische Kriterien gegangen sei, sondern auch nach Hautfarbe und Herkunft entschieden worden sei. Was halten Sie davon?
Stanišić: Es war ganz interessant zu sehen, wie solche Jurys funktionieren. Der Text selbst versucht, eine Art Literaturbegriff zu verteidigen, der von solchen äußerlichen Merkmalen unabhängig sein sollte. Das heißt, es sollte nur die literarische Qualität zählen und nicht, ob der Autor oder die Autorin eine andere Hautfarbe hat oder aus einem anderen Land kommt. Das finde ich wahnsinnig lauter, dass man sagt: Wir geben etwas frei, wir offenbaren etwas, bei dem wir das Gefühl haben, das unterläuft den Bedingungen, wie Literatur bewertet wird, das sollte nicht so sein. Das finde ich sehr schön.
Auf der anderen Seite muss man sich fragen, ob man das nicht miteinander hätte lösen können, ohne es so groß in die Öffentlichkeit zu tragen. Aber die Öffentlichkeit interessiert das wiederum: Wir haben diese Illusion, dass Literaturpreise nach objektiven Kriterien verteilt werden, was leider wahrscheinlich nicht immer der Fall ist. Deswegen bin ich da so ein bisschen zwiegespalten. Ich habe es mit großer Neugier und Erstaunen gelesen, dass bei so einem renommierten Preis Kriterien, die außerliterarisch sind, angewandt werden. Aber dann habe ich mich auch dabei erwischt zu denken, dass es wahrscheinlich bei vielen Preisen so ist. Also lasst uns deswegen nicht so ein großes Fass aufmachen.
Mit ihrem neuen Buch gehen Sie auf eine lange Lesereise. Kann man die Freuden gewichten: Das Buch ist da, und ich stelle es gleich persönlich Menschen vor?
Stanišić: Ich liebe es, auf der Bühne zu sein: Zum einen, weil ich so eine Rampensau bin, und andererseits bekomme ich sonst nicht die Gelegenheit, mit Menschen zu sprechen, die das Buch gelesen haben. Und da ist es so, dass man die Leser und Leserinnen und Zuhörer in der Stadt trifft. Das ist immer schön für mich, diese Reisen zu machen. Sie sind wie kleine Urlaube, die verbunden sind mit eineinhalb Stunden Arbeit. Ich freue mich total drauf.
Inzwischen schreibe ich manche meiner Texte schon so, dass ich denke: Das könnte gut auf einer Bühne funktionieren. Da sind teilweise Pointen drin, die ich gar nicht unbedingt für das Buchformat reinschreiben würde, aber ich weiß ganz genau, dass das gut auf der Bühne funktionieren würde. Ich betrachte die Bühne und das Vorlesen vor Publikum als einen eigenen Kunstvorgang, der mir wirklich wichtig ist. Ich schreibe meine Texte teilweise auch auf diese Bühnensituation hin, die so ein bisschen etwas theatrales hat. Vor allem, wenn es um Humor geht, weil das im großen Raum immer ganz gut funktioniert, wenn die Leute sich amüsieren, nach Hause gehen und denken: Wir haben etwas Politisches gehört, aber wir haben uns auch wirklich amüsiert. Und das soll meine Literatur auch können.
Das Buch hat einen sehr schönen, aber auch sehr langen Titel: "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne." Was sagt der Verlag, wenn Sie sagen: Mein neues Buch möchte gerne so heißen?
Stanišić: Die sind super, die machen da voll gut mit. Das ist bei allen Büchern immer schon eine Teamentscheidung gewesen. Es gibt meistens eine Liste von vier, fünf Titeln, aber bei diesem hier war das so klar, weil er schon eine kleine Geschichte an sich ist. Schon alleine die Vorstellung, wo bei einer Gießkanne überhaupt "vorne" ist, diese Witwe, und auch, dass man sich selber den Zeitpunkt aussucht, wann man angesprochen werden möchte - das sind lauter kleine Komponenten einer Erzählung. Ich dachte, dass das ganz gut für einen Erzählband ist, dass man vorne nicht nur ein Wort hat oder so, sondern dass man eine kleine Erzählung an den Kopf eines Erzählbandes stellt, die so funktioniert wie eine kleine Miniaturgeschichte. Ich liebe den Titel über alles, er gefällt mir sehr gut.
Das Interview führte Philipp Schmid.