"Unser Deutschlandmärchen": Geschichte einer Einwandererfamilie
Mit "Unser Deutschlandmärchen" ist Dinçer Güçyeter ein gefühlvolles Romandebüt gelungen. Der Autor findet magische, dichte, auch schmerzhafte Bilder für das Leben vieler Einwanderer. Dafür wurde er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.
Hart ist die körperliche Arbeit, ruppig der Ton unter den Kollegen. Dazwischen: er, der sich selbst "der Junge im Blaumann" nennt. Tagsüber steht er an der Drehmaschine, liest in den Pausen Else Lasker-Schüler. Nach Feierabend schreibt der Junge selbst Gedichte.
hüpfe in das blaue Gefieder
verhülle das Zerbrechliche, dieser Himmel lehrt dich neue Winde
geh an die Drehbank 630, beflügele die Späne, singe deine Lieder
dieser Himmel lehrt dich die Zukunft, Junge! suche und finde!
Leseprobe
Eine Familiengeschichte über mehrere Generationen
Von eben diesem Suchen und Finden schreibt Dinçer Güçyeter in seinem Roman "Unser Deutschlandmärchen". Es ist seine Familiengeschichte, über mehrere Generationen erzählt. Zugleich Abgrenzung und Annäherung an die eigene Familie. "Beides gehört in ein Menschenleben", sagt Güçyeter, Kind türkischer Gastarbeiter, geboren 1979 im niederrheinischen Nettetal.
Mitte der 60er-Jahre folgt die Mutter dem Vater nach Deutschland, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Eltern schuften - er in einer Kneipe, sie auf dem Feld und in der Fabrik, manchmal mehrere Schichten pro Tag. Sich nicht zu schade sein für unliebsame Jobs das hat der Sohn von ihnen gelernt, sagt er. So wie seinen Eltern gehe es vielen: "Was mussten all diese Menschen erleben oder was mussten sie alles entbehren? Diese Aufgabe war für alle auch eine Art Kostüm, ein sehr schweres Kostüm. Diese ganzen individuellen Neigungen, Begehren, Wünsche mussten einfach unter den Teppich gekehrt werden. Und was ist daraus entstanden? Wie sind wir damit umgegangen, die zweite oder dritte Generation? Das hat mich alles beschäftigt."
Heimatverlust, Rassismuserfahrungen und Neuanfänge
Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt, die sich die Autofiktion immer wieder gefallen lassen muss, lässt Güçyeter entschlossen unbeantwortet. Für ihn sind die Dinge im Fluss und nie trennscharf. So oder so geht es nicht um einzelne Biografien. Er findet magische, dichte, auch schmerzhafte Bilder für die Leben vieler Einwanderer. Für Heimatverlust, Rassismuserfahrungen und Neuanfänge. Neben einem Erzähler namens Dinçer kommen die Frauen der Familie zu Wort: die Urgroßmutter, die Großmutter und die Mutter Fatma:
Wir hätten uns nicht integriert, heißt es, wir wären ungebildet und immer nur Arbeitstiere geblieben. Was soll ich sagen, mehr wollte man nicht von uns. Fatma ist mein Name, die Gastarbeiterin, die Akkordbrecherin. Alles, was bei mir keine Sprache fand, soll auf euren Zungen die Seiten aufschlagen. Leseprobe
Prosa, in der Lyrik mitmischt, orientalisch-märchenhaft und blumig.
"Unser Deutschlandmärchen": Ein gefühlvolles Romandebüt
Nach der Schule lernt Dinçer zur Freude der Mutter Werkzeugmacher. Mit Anfang 30 hängt er seinen Beruf an den Nagel, um Lyriker zu werden. So wie Güçyeter, der bis heute seinen Lyrik-Verlag ELIF als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit finanziert. Wir lesen von einem Mann, der im Dazwischen denkt und lebt - zwischen deutschem Zuhause und türkischen Wurzeln, zwischen Arbeiter- und Poetenleben, zwischen Hand und Hirn. Dabei scheint er seine eigene Sprache gefunden zu haben. Das Buch ist eine Collage: Briefe tauchen auf, Kinderlieder, Chöre, Gebete, Monologe, Dialoge. Spielerisch mischt der Autor Form und Inhalt. Genre-Regeln interessieren ihn nicht, die Konventionen des Literaturbetriebs sind ihm oft suspekt. Er schreibt aus sich selbst heraus. Seine Offenheit fühlt sich aufrichtig an. Das geht tief:
Ich, dein Sohn, deine Enttäuschung. War bereit, dass mich das Leben mit all seinen Werkzeugen neu schnitzt, mir neue Wunden öffnet, mich bluten lässt, mir den sicheren Hafen überschwemmt. Siehst du, wie ein Verrückter schreibe ich Gedichte, wie ein Wahnsinniger gehe ich auf die Bühnen, lese meine Texte vor, egal, wie peinlich, wie albern es aussieht! Leseprobe
"Unser Deutschlandmärchen" ist ein gefühlvolles Romandebüt, das uns teilhaben lässt an einer großen, widerspenstigen Versöhnung. "Es hat mir auch unheimlich viel Spaß gemacht, diese Ausgrabung: Was werde ich noch entdecken? Welche Töne, welche Farben, welche Stimmen gehören noch dazu?", so Güçyeter.
Unser Deutschlandmärchen
- Seitenzahl:
- 216 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Mikrotext
- Bestellnummer:
- 978-3-94863-116-1
- Preis:
- 25 €