Dinçer Güçyeter: "Männer im Text zum Schweigen gebracht"
Für "Unser Deutschlandmächen" wurde Dinçer Güçyeter mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Im Interview gibt er Einblicke in den Schreibprozess und spricht darüber, welche Rolle die Frauen in seinem Leben für sein Denken und Arbeiten gespielt haben.
In seinem Buch "Unser Deutschlandmärchen" erzählt Dinçer Güçyeter seine Familiengeschichte über mehrere Generationen. Was ihm beim Schreiben wichtig war, hat er jetzt in einem Interview für die Sendung Das Gespräch auf NDR Kultur erzählt. Einen Auszug lesen Sie hier. Das vollständige 30-minütige Gespräch können Sie in der ARD Audiothek oder als Podcast hören.
Herr Güçyeter, Ihr Debütroman "Unser Deutschlandmärchen" ist im mikrotext Verlag erschienen, den noch nicht allzu viele Menschen auf dem Zettel haben. Die Leipziger Buchpreis-Jury hat sich also in doppelter Hinsicht einem Wagnis hingegeben, einen Autor, der noch nicht so etabliert ist, und einen Verlag, der noch nicht so bekannt ist, auszuzeichnen. Hat Sie das doppelt gefreut?
Dinçer Güçyeter: Für mich war das die beste Entscheidung, die die Jury getroffen hat, denn ich sehe das Ganze auch aus einer anderen Perspektive. Ich finde diese unabhängigen Verlage großartig. Ich weiß ja auch, wie die Verlagschefin Nikola Richter arbeitet, was für wunderbare Bücher sie veröffentlicht. Und diese Würdigung von unabhängigen Verlagen finde ich großartig. Es geht insgesamt auch in diese Richtung: Die Independent-Verlage bekommen immer mehr Aufmerksamkeit. So erlebe ich das auch in meinem eigenen Verlag Elif. Deshalb finde ich die Entscheidung sehr mutig, aber auf der anderen Seite auch sehr erfreulich. Was die Entscheidung zu meinem Roman angeht, dazu will ich jetzt nichts sagen, da müssen Sie noch einmal mit den Jurymitgliedern sprechen (lacht).
Und die Jury hat ja auch eine Begründung geliefert. Sie sind 1979 in Nettetal als Kind türkischer Gastarbeiter geboren. Mit dem Preis soll sicherlich auch jemand stellvertretend ausgezeichnet werden, der die Lebensgeschichten einer ganzen Generation, auch mit ihren Rassismuserfahrungen, Rissen und Brüchen, noch einmal auf eine andere Art an die Öffentlichkeit bringt.
Güçyeter: Diese Entscheidung ist auch sehr mutig, denn es ist ja keine eingeübte literarische Form, für die ich mich entschieden habe. Das Buch arbeitet mit ganz unterschiedlichen Instrumenten. Man kann sich einen Autor manchmal wie einen Maestro vorstellen. Sie sitzen da und haben die Möglichkeit, mit unterschiedlichen Instrumenten zu arbeiten. Trommel, Oboe, oder Gitarre? Vielleicht mit Streichern? Aber dann kommen Sie noch einmal auf eine andere Idee: Wie würde es klingen, wenn man Kontrabass mit Saz zusammenbringt? Oder mit einer Oud? So habe ich mir das Ganze vorgestellt. Als junger Mensch hatte ich immer diesen Traum: Wie würde es klingen, wenn Neşet Ertaş zusammen mit Udo Jürgens auf einer Bühne singen würde? Oder die Pop-Ikone Sezen Aksu mit Nina Hagen? Das wären wunderbare Kombination gewesen! Von solchen Bildern habe ich immer geträumt. Und in diesem Schreibprozess habe ich mir die Freiheit genommen, all das, wovon ich geträumt habe, in einer literarischen Form zu verwirklichen. Mit ganz unterschiedlichen Instrumenten und Stimmen: Mit Chören, einzelnen Stimmen, Stimmen von Einwanderern, Stimmen von Menschen, die hier in Deutschland geboren sind.
Dabei habe ich sehr lange darüber nachgedacht: Wie war das Zusammenleben? Manchmal war es sehr harmonisch, sehr glücklich. Und oft habe ich festgestellt, dass vieles von der Politik kaputtgemacht wurde. Die Menschen hatten miteinander überhaupt gar kein Problem, aber diese politischen Entscheidungen haben diese Risse in die Gesellschaft gesetzt und sie dann gespalten. Wenn man jetzt auf diese ganzen Sprüche der Politiker der letzten 50 Jahre zurückschaut: Da ist auch sehr viel schiefgelaufen. Heute ist es genauso. Wir haben immer die Hoffnung, dass Menschen nicht mehr in so einem kleinkarierten Rahmen denken möchten. Aber oft habe ich auch Angst, dass es wieder in diese Richtung läuft.
Was den literarischen Dialekt von mir angeht und das, was ich machen wollte: Das hat nach meinem Geschmack gut zusammengepasst. Die Jury hat das erkannt, und das ist auch ein Glück. Es gibt jedes Jahr tausende Bücher - und entdeckt zu werden, hat manchmal auch etwas mit Glück zu tun.
Welche Rolle haben die Frauen gespielt bei der Entwicklung dieser erzählerischen Möglichkeiten? Es scheint in Ihrem Roman so zu sein, dass der Erzähler Dinçer sehr davon profitiert hat, in einem Umfeld groß geworden zu sein, wo vor allem die Frauen Geschichten erzählt haben. Die Männer haben keine Geschichten erzählt, oder?
Güçyeter: Die Männer habe ich in diesem Text einfach zum Schweigen gebracht. Ich wollte, dass diesmal nur die Frauen erzählen. Ich bin in einer Wohnung groß geworden, wo die Frauen sehr dominant waren. Es wurde von morgens bis abends diskutiert. Es gab Dramen, so wie im Harem eines Palastes. Ich war dort der kleine, pummelige Eunuch: Egal, wo das Drama war, bin ich hingelaufen. Ich war sehr neugierig, ich wollte alles mitbekommen.
Die Stimme der Figur Fatma ist in diesem Text sehr dominant. Aber auch von Ayşe, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf einem Ochsenwagen von Kavala in die Ägäis ziehen musste und am ersten Abend von einem Mann geschwängert wurde. Dann wurde Hanife geboren, die mehrere Kinder auf die Welt brachte, von denen viele gestorben sind. Fatma ist eines von den Kindern, die überlebt haben. Sie ist 1965 mit einem Mann mit dickem Kopf und einem Fahrrad nach Deutschland gekommen, und 1979 ist ein Dinçer auf die Welt gekommen. Aber dann kommen auch noch die ganzen anderen Figuren dazu: Maria aus Polen, Zeynep aus Griechenland und viele andere. Wie ich am Anfang formuliert habe: Es bildet sich ein Orchester mit unterschiedlichen Stimmen. Mal klingt dieses Orchester sehr traurig, mal sehr dramatisch, mal sehr humorvoll, mal sehr zynisch. Aber es klingt auch sehr hoffnungsvoll. Was ich auf gar keinen Fall machen wollte: Diese Frauen als Opfer darstellen. Es waren für mich großartige Frauen, die sehr viel bewegt haben. Die Männer waren bei mir im Umfeld immer schwächer als die Frauen. Sie haben alles Mögliche drangesetzt, dass wieder ein bisschen Normalität in den Alltag kam.
Meine Frau Ayşe hat das gemacht, was die Frauen aus meinem Buch eigentlich auch damals gemacht haben. Ich als Autor und Verleger, oder sagen wir mal als Träumer, bin ein bisschen sensibel und kann auch sehr schnell aufgeben (schmunzelt). Ayşe war immer diejenige, die gesagt hat: Wir haben genug Nudeln im Schrank, mach du mal weiter. Du darfst jetzt nicht aufgeben! Viele Frauen in meinem Leben haben immer so getickt, und deshalb waren die Dinge möglich. Weil Fatma nie aufgegeben hat, war es auch für mich als Sohn möglich, einen anderen Weg einzuschlagen und anders zu träumen als die Kinder in der Sippe. Sie war damit nicht einverstanden. Das weiß jeder, der den Roman gelesen hat. Es gab viele Gespräche, viele Diskussionen. Aber zumindest jetzt ist sie sehr stolz und sehr glücklich.
Das Gespräch führte Joachim Dicks.