"Maifliegenzeit": Bewegender Roman über ein dunkles Kapitel der DDR
Ähnlich wie in seinem letzten Roman "Die Verlassenen" beschäftigt sich Matthias Jügler auch in "Maifliegenzeit" mit der ostdeutschen Geschichte - das ist spannend und bewegend zugleich.
Normalerweise bringt der Mann seine dreckigen Angel-Sachen gleich in den Keller, heute wirft er sie erstmal in den Flur. Erstaunlicherweise ärgert sich seine Partnerin nicht darüber. Sie umarmt ihn sogar.
"Daniel hat angerufen", sagte sie, mit trockener und brüchiger Stimme. Daniel, mein einziges Kind, das seit 40 Jahren tot ist (…). Sie sagte das in einem Ton, der sowohl feierlich als auch besorgt klang, als wüsste sie nicht, wie ich reagieren würde (…) was diese drei Worte auslösen würden. Leseprobe
Was passierte wirklich bei Daniels Geburt?
Der Ich-Erzähler, Hans, ist pensionierter Lehrer. Als er seine Partnerin vor zehn Jahren kennenlernte, hat er ihr gleich von der Ehe mit Katrin erzählt, von der Freude über ihre Schwangerschaft und von der schockierenden Mitteilung, dass ihr Baby kurz nach der Geburt gestorben war. Katrin zweifelte von Anfang an: Das Baby hatte doch kräftig geschrien. Und warum durften sie es nicht sehen? Hans dagegen unterschrieb stumm die vorgelegten Formulare. Statt bei seiner Frau zu bleiben, zog er sich zurück. Als sie wieder und wieder Zweifel äußerte, schüttelte er sie heftig. Sie sollte endlich die Wahrheit akzeptieren. Katrin trennte sich.
Jahre später, kurz bevor sie starb, appellierte Katrin an Hans: Sollte es je eine Chance geben, möge er versuchen, Licht ins Dunkel der Geburt zu bringen. Die Chance kommt 1989 mit der Wende. In der Geburtsklinik bestätigt ihm ein Arzt, dass Akten existieren. Einsehen darf er sie nicht. Eine Rechtsmedizinerin will sich der Sache annehmen und macht plötzlich einen Rückzieher. Hans gibt auf und geht angeln.
Spannungsgeladene Geschichte zwischen Vater und Sohn
Mit dem Angeln hat Matthias Jügler eine schillernde zweite Ebene für diese Geschichte gefunden. Hans sitzt tagelang am Fluss. Er kennt Aussehen und Eigenarten sämtlicher Fische, einige gründeln im Schlamm, andere zeigen sich.
Die prahlen mit ihrer Schönheit - die rotflossige und golden glänzende Rotfeder zum Beispiel, oder die Äsche, die ihre große, fahnenartige Rückenflosse stolz wie einen Irokesenschnitt trägt (…) Brassen hingegen halten sich in diesen Dingen bedeckt. Leseprobe
Man kann diese Naturbeschreibungen wie eine Atempause in einer spannungsgeladenen Geschichte lesen, manchmal auch als Allegorie auf das, was sich zwischen Vater und Sohn abspielt. Als Hans endlich die hinterlassene Telefonnummer wählt, bleibt der Sohn erstmal reserviert. Er weiß erst seit kurzem, dass er adoptiert worden ist. Als er heiraten wollte und einen Auszug aus dem Geburtenregister brauchte, hat er erfahren, dass er mal einen anderen Namen hatte. Was Hans ihm erzählt - die Lüge vom toten Kind -, das nimmt Daniel ihm nicht ab. Es empört ihn. Er hat mit einer ganz anderen Geschichte gelebt.
"Maifliegenzeit": Einer der besten Romane im Frühjahr
Es ist berückend, wie Matthias Jügler hier mit wenigen Worten Misstrauen auslotet. Er erzählt, wie schwer eine einmal verinnerlichte Wahrheit zu knacken ist. Aber er erzählt auch: Der Versuch lohnt sich. Jügler hat sich mit einem dunklen Kapitel der DDR beschäftigt - spannend und bewegend zugleich. Für mich die Nummer eins auf der Bücherliste des Frühjahrs.
Maifliegenzeit
- Seitenzahl:
- 156 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Penguin
- Bestellnummer:
- 978-3-328-60289-7
- Preis:
- 22 €