Was war 2023 in der Literatur los?
Wer hat die bedeutenden Literaturpreise in diesem Jahr gewonnen und bei wem hieß es Abschied nehmen? NDR-Literaturredakteur Joachim Dicks mit einer literarischen Jahres-Chronik für 2023.
Für die erste ganz große Überraschung in diesem Jahr sorgte der Verleger, Lyriker, Gabelstapelfahrer und Romanschriftsteller Dinçer Güçyeter. Für seinen Debütroman "Unser Deutschlandmärchen", eine autobiographische Auseinandersetzung mit der Migration seiner türkischen Eltern nach Deutschland, erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie "Belletristik".
"Das größte Ziel von mir war auch, diese Frauen, die als Gastarbeiter in den 60er Jahren hier nach Deutschland gekommen sind, nicht als Opfer, als traurige Frauen darzustellen, sondern als kräftige, wuchtige Wesen, die sehr viel geschafft haben, die sehr viel bewegt haben", sagt Güçyeter.
Anfang Juli gewann die Berliner Autorin Valeria Gordeev mit einem sehr kuriosen Text den Ingeborg-Bachmann-Preis. Mit der Geschichte eines Mannes, der unter einem krankhaften Putzfimmel leidet, überzeugte Valeria Gordeev die Jury, wohl auch, weil aus diesem Putzwahn erschreckende Parallelen zu dem Zustand unserer Welt erkennbar wurden.
Er soll den Chlorreiniger nicht mehr verwenden, behält sich aber vor, in Ausnahmefällen ihn dann und wann in Schlachtfelder zu schicken, wenn er den Kühlschrank abtaut, wenn er den Dunstabzug reinigt, wenn er sich hinkniet, um einen Blick in den Spalt zwischen Geschirrspüler und den Herd zu werfen, el Gotto oder "Das Tal des Ekels" … . Leseprobe aus "Er putzt"
Tonio Schachinger erhält "Deutschen Buchpreis"
Die Vergabe der nächsten großen Preise führte - traditionsgemäß - nach Frankfurt an den Main zur Buchmesse. Den "Deutschen Buchpreis" erhielt der österreichische Schriftsteller Tonio Schachinger für seinen Roman "Echtzeitalter". Mit seinen gerade mal 31 Jahren machte er zunächst einen sehr coolen Eindruck. "Ich freue mich sehr darüber. Vielleicht merkt man es mir nicht ganz so an, aber es ist wirklich so", erklärt Schachinger.
Wenige Tage zuvor hatten die schrecklichen Nachrichten aus Israel die Welt erschüttert, auf die Tonio Schachinger, wenigstens kurz, in seiner Dankesrede eingegangen ist: "Also, es macht mich fertig, die Nachrichten zu sehen und ich nehme an, Ihnen geht es genauso. Ich habe auch sonst nichts beizutragen zu einer Lösung, außer, dass ich hoffe, dass es möglich ist, dass Leute nicht umgebracht werden und dass in Europa und überall anders sonst Jüdinnen und Juden sich sicher fühlen können."
Friedenspreis für unerschütterlichen Salman Rushdie
Am Ende der Buchmessen-Woche wurde dann Salman Rushdie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Und mit ihm ein Mann, der wie kaum ein anderer - zumal nach dem lebensgefährdenden Anschlag auf sein Leben ein Jahr zuvor - als Vorbild angesehen werden kann für unerschütterliche Menschlichkeit. "Schreiben ist eine Form von Optimismus. Sich einer Sache zu widmen, um ein Buch zu schreiben, ist ein optimistischer Akt. Man hofft, dass jemand es am Ende lesen wird. Schriftsteller sind also große Optimisten, auch wenn die Realität sehr dunkel sein mag. Und ich denke, sie ist es gerade tatsächlich", sagt Salman Rushdie.
Jon Fosse wird Literaturnobelpreisträger
Den weltweit aufmerksamkeitserheischendsten Literaturpreis, den Nobelpreis, hat der norwegische Autor Jon Fosse bekommen, der in Deutschland vor allem durch seine Theaterstücke bekannt ist und auch für seine Fähigkeit, "dem Unsagbaren eine Stimme zu verleihen". Er selbst reagierte kurz nach Bekanntwerden in einem Telefonat recht abgeklärt.
"Ich war überrascht, aber irgendwie auch nicht", erzählt Fosse. "Seit zehn Jahren habe ich mich nicht mehr an den Diskussionen um den Literaturnobelpreis beteiligt. Ich habe es mir verkniffen, mir Hoffnungen zu machen und ich habe auch nicht daran geglaubt, dass ich heute den Preis bekommen würde. Über den Anruf der Akademie, dass ich jetzt ausgezeichnet werde, habe ich mich sehr gefreut."
Lutz Seiler geehrt mit Georg-Büchner-Preis
Und dann ist da noch der Preis, der im deutschsprachigen Raum immer noch als der renommierteste gilt, obwohl das Preisgeld von 50.000 Euro inzwischen nicht mehr einmalig ist: der Büchner-Preis. Der ging diesmal an den Lyriker und Prosa-Autor Lutz Seiler. Er sagte kurz nach Bekanntgabe - na, was soll er schon sagen? "Eine große Bestätigung für das, was ich mache. Eine große Ehre, ein großes Glück und eine große Ermutigung eben auch."
Und zu seinem Vorgänger Georg Büchner sagte er: "Mich interessiert, was Büchner gemacht hat, wie ihn wissenschaftliche Details genau so interessiert haben wie das große Thema der sozialen Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Das sind ganz verschiedene Seiten einer faszinierenden Person."
Sybille Lewitscharoff ist gestorben
Am Ende, traurig und dankbar zugleich, wollen wir noch daran erinnern, von wem wir uns in diesem Jahr verabschiedet haben: Menschen, wie von Sybille Lewitscharoff: "Für mich ist der Humor ein wichtiges Ingredienz auch der eigenen zu hohen Selbstwahrnehmung zu entkommen, sich selbst in ein mürberes Gefilde zu stellen und daraus die Funken zu schlagen," sagte Sybille Lewitscharoff über die Literatur. "Texte, die diesen durchherrschenden Selbst-Ernst atmen, die haben etwas Furchtbares. Dem möchte ich wirklich entgehen."
Das ist Sibylle Lewitscharoff fast immer gelungen. Im Mai starb die streitbare Autorin mit dem unverwechselbaren Zungenschlag, die uns mit Büchern wie "Pong", "Apostoloff" und "Das Pfingstwunder" ein schönes Erbe hinterlassen hat.
Abschied von Milan Kundera
Im Juli hieß es dann Abschied nehmen von dem großen Bewunderer der "unerträglichen Leichtigkeit des Seins", von Milan Kundera. Er hat in seinem 94-jährigen Leben nur wenig Interviews gegeben, aber einmal hat er verraten, warum er da so zurückhaltend war.
"In unserem dümmlicherweise völlig politisierten Jahrhundert verstehen die Leute nicht mehr, einen Roman wirklich als einen Roman zu lesen. Sie wollen vielmehr in einem Roman eine Illustration von einfachen politischen Thesen sehen. Ganz besonders bei einem Schriftsteller, der aus dem sogenannten Osten kommt."
Martin Walser starb mit 96 Jahren
Im Alter von 96 Jahren hat sich Ende Juli auch Martin Walser auf die letzte Reise begeben. Er hat mit seinen Büchern und öffentlichen Auftritten für viel Kontroversen gesorgt, aber so manche Lebenseinsicht hat er uns eben auch hinterlassen: "Wenn Du einen Roman schreibst, schreibst Du ihn natürlich aus einem negativen Anlass, Dir fehlt etwas, Du hast etwas nicht. Und solange man das schreibt, ist man fein heraus, weil du kannst umgehen mit etwas, das dir sonst nur weh tut. Wenn das Schreiben vorbei ist, bist du wieder genau so dumm dran wie vorher."