Autor Dinçer Güçyeter - „Unser Deutschlandmärchen“ erhält den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik während Verleihung des Leipziger Buchpreises 2023 in der Glashalle auf dem Leipziger Messegelände. © picture alliance/dpa Foto: Jan Woitas

Was war 2023 in der Literatur los?

Stand: 30.12.2023 11:05 Uhr

Wer hat die bedeutenden Literaturpreise in diesem Jahr gewonnen und bei wem hieß es Abschied nehmen? NDR-Literaturredakteur Joachim Dicks mit einer literarischen Jahres-Chronik für 2023.

von Joachim Dicks

Für die erste ganz große Überraschung in diesem Jahr sorgte der Verleger, Lyriker, Gabelstapelfahrer und Romanschriftsteller Dinçer Güçyeter. Für seinen Debütroman "Unser Deutschlandmärchen", eine autobiographische Auseinandersetzung mit der Migration seiner türkischen Eltern nach Deutschland, erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie "Belletristik".

"Das größte Ziel von mir war auch, diese Frauen, die als Gastarbeiter in den 60er Jahren hier nach Deutschland gekommen sind, nicht als Opfer, als traurige Frauen darzustellen, sondern als kräftige, wuchtige Wesen, die sehr viel geschafft haben, die sehr viel bewegt haben", sagt Güçyeter.

Weitere Informationen
Dinçer Güçyeter © picture alliance/dpa Foto: Jan Woitas

Dinçer Güçyeter: "Männer im Text zum Schweigen gebracht"

Der Autor von "Unser Deutschlandmärchen" gibt Einblicke in seinen Schreibprozess und spricht darüber, welche Rolle die Frauen in seinem Leben gespielt haben. mehr

Anfang Juli gewann die Berliner Autorin Valeria Gordeev mit einem sehr kuriosen Text den Ingeborg-Bachmann-Preis. Mit der Geschichte eines Mannes, der unter einem krankhaften Putzfimmel leidet, überzeugte Valeria Gordeev die Jury, wohl auch, weil aus diesem Putzwahn erschreckende Parallelen zu dem Zustand unserer Welt erkennbar wurden.

Er soll den Chlorreiniger nicht mehr verwenden, behält sich aber vor, in Ausnahmefällen ihn dann und wann in Schlachtfelder zu schicken, wenn er den Kühlschrank abtaut, wenn er den Dunstabzug reinigt, wenn er sich hinkniet, um einen Blick in den Spalt zwischen Geschirrspüler und den Herd zu werfen, el Gotto oder "Das Tal des Ekels" … . Leseprobe aus "Er putzt"

 

Weitere Informationen
Eine Frau mit einer Statue in der Hand © Gert Eggenberger Foto: Gert Eggenberger

"Kolossaler Text": Valeria Gordeev gewinnt Bachmann-Preis 2023

Die Autorin nahm den Preis unter Tränen entgegen. In ihrem Text beschreibt sie eine Figur mit notorischem Putzzwang. mehr

Tonio Schachinger erhält "Deutschen Buchpreis"

Die Vergabe der nächsten großen Preise führte - traditionsgemäß - nach Frankfurt an den Main zur Buchmesse. Den "Deutschen Buchpreis" erhielt der österreichische Schriftsteller Tonio Schachinger für seinen Roman "Echtzeitalter". Mit seinen gerade mal 31 Jahren machte er zunächst einen sehr coolen Eindruck. "Ich freue mich sehr darüber. Vielleicht merkt man es mir nicht ganz so an, aber es ist wirklich so", erklärt Schachinger.

Wenige Tage zuvor hatten die schrecklichen Nachrichten aus Israel die Welt erschüttert, auf die Tonio Schachinger, wenigstens kurz, in seiner Dankesrede eingegangen ist: "Also, es macht mich fertig, die Nachrichten zu sehen und ich nehme an, Ihnen geht es genauso. Ich habe auch sonst nichts beizutragen zu einer Lösung, außer, dass ich hoffe, dass es möglich ist, dass Leute nicht umgebracht werden und dass in Europa und überall anders sonst Jüdinnen und Juden sich sicher fühlen können."

Weitere Informationen
Tonio Schachinger © picture alliance/dpa | Helmut Fricke Foto: Helmut Fricke

Tonio Schachinger: "Wollte über 'Age of Empires' schreiben"

Mit NDR Kultur spricht der Träger des Deutschen Buchpreises über die Preisverleihung, die Arbeit mit seiner Frau und seinen Roman "Echtzeitalter". mehr

Friedenspreis für unerschütterlichen Salman Rushdie

Am Ende der Buchmessen-Woche wurde dann Salman Rushdie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Und mit ihm ein Mann, der wie kaum ein anderer - zumal nach dem lebensgefährdenden Anschlag auf sein Leben ein Jahr zuvor - als Vorbild angesehen werden kann für unerschütterliche Menschlichkeit. "Schreiben ist eine Form von Optimismus. Sich einer Sache zu widmen, um ein Buch zu schreiben, ist ein optimistischer Akt. Man hofft, dass jemand es am Ende lesen wird. Schriftsteller sind also große Optimisten, auch wenn die Realität sehr dunkel sein mag. Und ich denke, sie ist es gerade tatsächlich", sagt Salman Rushdie.

Jon Fosse wird Literaturnobelpreisträger

Den weltweit aufmerksamkeitserheischendsten Literaturpreis, den Nobelpreis, hat der norwegische Autor Jon Fosse bekommen, der in Deutschland vor allem durch seine Theaterstücke bekannt ist und auch für seine Fähigkeit, "dem Unsagbaren eine Stimme zu verleihen". Er selbst reagierte kurz nach Bekanntwerden in einem Telefonat recht abgeklärt.

"Ich war überrascht, aber irgendwie auch nicht", erzählt Fosse. "Seit zehn Jahren habe ich mich nicht mehr an den Diskussionen um den Literaturnobelpreis beteiligt. Ich habe es mir verkniffen, mir Hoffnungen zu machen und ich habe auch nicht daran geglaubt, dass ich heute den Preis bekommen würde. Über den Anruf der Akademie, dass ich jetzt ausgezeichnet werde, habe ich mich sehr gefreut."

Weitere Informationen
Das Cover von Jon Fosses Erzählung "Ein Leuchten" © rowohlt

"Ein Leuchten": Erzählung von Nobelpreisträger Jon Fosse

Wer den frisch gekürten Nobelpreisträger kennenlernen möchte, findet in dieser 80-Seiten-Erzählung den idealen Lesestoff. mehr

Lutz Seiler geehrt mit Georg-Büchner-Preis

Und dann ist da noch der Preis, der im deutschsprachigen Raum immer noch als der renommierteste gilt, obwohl das Preisgeld von 50.000 Euro inzwischen nicht mehr einmalig ist: der Büchner-Preis. Der ging diesmal an den Lyriker und Prosa-Autor Lutz Seiler. Er sagte kurz nach Bekanntgabe - na, was soll er schon sagen? "Eine große Bestätigung für das, was ich mache. Eine große Ehre, ein großes Glück und eine große Ermutigung eben auch."

Und zu seinem Vorgänger Georg Büchner sagte er: "Mich interessiert, was Büchner gemacht hat, wie ihn wissenschaftliche Details genau so interessiert haben wie das große Thema der sozialen Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Das sind ganz verschiedene Seiten einer faszinierenden Person."

Weitere Informationen
Ernst Osterkamp und Lutz Seiler posieren mit Büchner-Preis-Urkunde © Andreas Arnold/dpa-Bildfunk Foto: Andreas Arnold

Georg-Büchner-Preis 2023 an Lutz Seiler verliehen

Lutz Seiler habe als Romancier und als Dichter zu seiner eigenen, unverwechselbaren Stimme gefunden, so die Jury. mehr

Sybille Lewitscharoff ist gestorben

Am Ende, traurig und dankbar zugleich, wollen wir noch daran erinnern, von wem wir uns in diesem Jahr verabschiedet haben: Menschen, wie von Sybille Lewitscharoff: "Für mich ist der Humor ein wichtiges Ingredienz auch der eigenen zu hohen Selbstwahrnehmung zu entkommen, sich selbst in ein mürberes Gefilde zu stellen und daraus die Funken zu schlagen," sagte Sybille Lewitscharoff über die Literatur. "Texte, die diesen durchherrschenden Selbst-Ernst atmen, die haben etwas Furchtbares. Dem möchte ich wirklich entgehen."

Das ist Sibylle Lewitscharoff fast immer gelungen. Im Mai starb die streitbare Autorin mit dem unverwechselbaren Zungenschlag, die uns mit Büchern wie "Pong", "Apostoloff" und "Das Pfingstwunder" ein schönes Erbe hinterlassen hat.

Weitere Informationen
Die Autorin Sibylle Lewitscharoff im Porträt © picture alliance / dpa | Uwe Zucchi

Zum Tod von Sibylle Lewitscharoff: Sie liebte die versponnenen Wörter

Die Autorin ist am Sonnabend im Alter von 69 Jahren gestorben. Eine Würdigung von NDR Literaturredakteur Alexander Solloch. mehr

Abschied von Milan Kundera

Im Juli hieß es dann Abschied nehmen von dem großen Bewunderer der "unerträglichen Leichtigkeit des Seins", von Milan Kundera. Er hat in seinem 94-jährigen Leben nur wenig Interviews gegeben, aber einmal hat er verraten, warum er da so zurückhaltend war.

"In unserem dümmlicherweise völlig politisierten Jahrhundert verstehen die Leute nicht mehr, einen Roman wirklich als einen Roman zu lesen. Sie wollen vielmehr in einem Roman eine Illustration von einfachen politischen Thesen sehen. Ganz besonders bei einem Schriftsteller, der aus dem sogenannten Osten kommt."

Martin Walser starb mit 96 Jahren

Im Alter von 96 Jahren hat sich Ende Juli auch Martin Walser auf die letzte Reise begeben. Er hat mit seinen Büchern und öffentlichen Auftritten für viel Kontroversen gesorgt, aber so manche Lebenseinsicht hat er uns eben auch hinterlassen: "Wenn Du einen Roman schreibst, schreibst Du ihn natürlich aus einem negativen Anlass, Dir fehlt etwas, Du hast etwas nicht. Und solange man das schreibt, ist man fein heraus, weil du kannst umgehen mit etwas, das dir sonst nur weh tut. Wenn das Schreiben vorbei ist, bist du wieder genau so dumm dran wie vorher."

Weitere Informationen
Martin Walser © picture alliance / dpa Foto:  Felix Kästle

Walser: "Das Umstrittene gehörte zu seinem Erscheinungsbild"

NDR Literaturredakteur Joachim Dicks erläutert, was den am Freitag verstorbenen Martin Walser so bedeutsam gemacht hat. mehr

Der britisch-indische Autor Salman Rushdie hält in der Paulskirche nach der Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels seine Dankesrede. © picture alliance/dpa/dpa Pool Foto: Arne Dedert

"Salman Rushdie hat Jesus wirklich verstanden"

Als richtiges Zeichen zum richtigen Zeitpunkt bekommt Salman Rushdie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, findet Bernd Lohse. mehr

Schriftsteller Kundera © picture alliance

Milan Kundera: Frei und misstrauisch

Milan Kundera ist tot. Was war es, was ihn so groß und so berühmt gemacht hat? Ein Gespräch mit Alexander Solloch. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 28.12.2023 | 06:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Sachbücher

Romane

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Bücher 2024: Das waren die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gab es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Gemälde von Caspar David Friedrich "Der Morgen" © picture-alliance / akg-images | akg-images

"Waldendzeit": Caspar David Friedrich und die Bäume

Buchautor Wilhelm Bode ist Waldexperte und hat sich aus dieser Sicht mit den Gemälden von Caspar David Friedrich beschäftigt. mehr