Milan Kundera: Frei und misstrauisch
Man verbindet den Namen Milan Kundera sofort mit einem Roman, der auch in der Verfilmung sehr erfolgreich war: "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins". Im Alter von 94 Jahren ist der aus Brünn stammende Schriftsteller nach langer schwerer Krankheit nun in seiner Wahlheimat Paris gestorben.
Alexander Solloch aus der NDR Kultur-Literaturredaktion berichtet im Gespräch über seltsame Ideen, viele Talente und einen Umzug nach Frankreich aus politischen Gründen.
Was war es, was Milan Kundera so groß, so wichtig, so berühmt gemacht hat?
Es war die unermessliche Weite des Horizonts, also der Blick ins Weite, den seine Romane ermöglicht haben, und es war die große kompositorische Kraft, die sie so wirkungsvoll und überzeugend gemacht haben, diese Romane wie "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins", einer der ewigen Klassiker des 20. Jahrhunderts, aber auch "Der Scherz", "Die Langsamkeit" oder, zuletzt, "Das Fest der Bedeutungslosigkeit".
Große Kompositionen, große Gemälde der menschlichen Landschaften, was am Rande übrigens auch darauf hinweist, dass Milan Kundera ebenso gut auch andere Wege hätte gehen können. Von ihm überliefert ist der Stoßseufzer: "Schreiben, was für eine seltsame Idee!" Er hätte auch die Talente gehabt, um Maler, Zeichner oder Pianist zu werden, Komponist sogar, einer wie Prokofjew oder Leoš Janáček, sagten manche, die den jungen Kundera kannten.
Aber der entschied sich für die "seltsame Idee" zu schreiben, was sicherlich auch in seiner Zeit, der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der spannungsvollen Zeit des Kalten Kriegs, für einen, der in den "Ostblock" hineingeboren worden war, die kompliziertere Idee darstellte.
Und nun kann man sagen: Kundera ist wichtig für die Weltliteratur, kein Zweifel, aber fast auch existenziell wichtig für die französische Literatur. Er ist ja in den 1970er-Jahren mit seiner Frau Vera aus der Tschechoslowakei nach Frankreich gezogen und hat seit den 1990ern auch auf Französisch geschrieben. Was er der französischen Literatur, die jahrzehntelang so verstrickt war in die Kleinlichkeiten und Begrenztheiten des Nouveau Roman, was er dieser Nationalliteratur an neuer Offenheit und Weite geschenkt hat (neben einigen anderen natürlich), das ist nur schwer zu ermessen.
Neben der Weite seines Erzähl-Horizonts: Was sind Kunderas wesentliche Themen?
Das kann man natürlich nur sagen, wenn man keine Angst vor etwas Grobem, Zugespitztem hat, denn er war kein Programmschriftsteller, der Thesenhaftes abgeladen hätte, dann sprächen wir jetzt nicht über seine Größe, dann sprächen wir überhaupt nicht über ihn. Aber ich glaube, man kann sagen: Abgesehen davon, dass er sehr lustig schreiben konnte und dass Erotik und Sex keine kleine Rolle in seinen Texten spielen (wenn man z.B. an seinen Erzählungsband "Das Buch der lächerlichen Liebe" denkt), abgesehen davon waren seine großen Themen das Vergessen und das Schweigen.
Er selbst ist übrigens in den letzten Jahren seines Lebens dem Vergessen und dem Schweigen anheimgefallen, konnte zum Schluss nur noch zwei Wörter sprechen, "Brünn" bzw. "Brno", der Name der Stadt also, in der er 1929 geboren wurde, in der er aufgewachsen ist - und das tschechische Wort für "Mutter". Wir verdanken dieses Wissen über seine letzten Jahre einer Vertrauten, der Journalistin Florence Noiville. Ihre große Kundera-Biographie ist bislang leider nur auf Französisch erhältlich, und sie ist sowieso eine Sensation, weil Kundera und seine Frau Journalisten, Biographen zumal, gar nicht gern an sich heranließen: Er wollte unbedingt vermeiden, dass in die Betrachtung seines Werks Kennziffern seiner Biographie hineingemengt werden.
Deswegen haben er und seine Frau z.B. ihren gesamten Briefwechsel verbrannt, und deswegen hat Kundera z.B. auch verhindert, dass in den Bänden der Pléiade, die ihm gewidmet waren - also dieser berühmten französischen Reihe mit Klassikern der Weltliteratur - dass da auch nur irgendwo die leiseste biographische Notiz über ihn zu finden ist. Aber natürlich steckt im Werk immer der Mensch, der es hervorbringt, seine Erfahrungen, sein Schmerz. Bei Kundera, einem wichtigen Vertreter der sozialistischen Demokratiebewegung in der Tschechoslowakei während des Prager Frühlings, war es vor allem der Schmerz darüber, dass sich über alle großen politischen Verbrechen - Verbrechen, die dann Geschichte werden - nur noch das Vergessen legt. Sie werden nicht geheilt, nicht repariert, nicht gesühnt, es gibt nicht einmal eine Bitte um Entschuldigung, es gibt nur: Vergessen und Totschweigen.
Aber er galt auch als einigermaßen schwieriger Zeitgenosse, warum war er so umstritten?
Schwierig, wer wäre das nicht? Er war eben misstrauisch, das fiel auf, weil er, anders als andere Persönlichkeiten des Lebens, kaum je Interviews gab, und wenn, dann fast ausschließlich schriftlich. Er hatte Sorge, falsch zitiert zu werden, Sorge, zu viel von sich preiszugeben, was dann den Blick auf sein Werk verschleiern könnte.
Und ja, umstritten vielleicht vor allem bei denen, die finden, man müsse alles im Leben immer ganz richtig machen und die sowieso auch immer schon wissen, was richtig ist. Seit 2008 gab es, aufgrund der Enthüllungen tschechischer Journalisten, Diskussionen darum, ob sich der ganz junge, 20-jährige Milan Kundera in der kommunistischen Tschechoslowakei nicht vielleicht doch politisch sehr angepasst verhalten habe. Ob er nicht vielleicht sogar einen antikommunistischen Aktivisten bei der Polizei angezeigt habe, der daraufhin zu vielen Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde.
Das sind Vorwürfe, die allerdings nie restlos überzeugend belegt werden konnten. Sie verblassen dann auch im Hinblick auf dieses lange, große Künstlerleben, ein Leben, das frei war und eben vielleicht doch nicht so ganz und gar bedeutungslos, anders als Kundera selbst die Grundkondition des Menschen, "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins", beschrieb: "Der Mensch wird leichter als Luft, schwebt empor, ist nur noch zur Hälfte wirklich, und seine Bewegungen sind ebenso frei wie bedeutungslos."