"Ein Leuchten": Erzählung von Nobelpreisträger Jon Fosse
Der frisch gekürte Nobelpreisträger Jon Fosse schreibt in seiner Erzählung "Ein Leuchten" über eine mysteriöse Begegnung in tiefer Dunkelheit. Das Buch ist eine wunderbare Einladung zum Sinnieren.
Der norwegische Schriftsteller Jon Fosse hat aufregende Tage hinter sich, zumal er sonst meistens zurückgezogen lebt. Am 10. Dezember wurde ihm der Literaturnobelpreis verliehen. Das bedeutet nicht nur viel Ehre, sondern auch fast eine Million Euro und eine Reihe gesellschaftlicher Verpflichtungen. Die Verlage in aller Welt haben sich beeilt, Titel des umfangreichen Werkes von Jon Fosse nachzudrucken: Romane, Theaterstücke und Kinderbücher. Sein deutscher Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel musste viele Nachtschichten einlegen: zum einen für den neuesten Teil eines siebenbändigen Romans, zum anderen für die Erzählung "Ein Leuchten", die auch in Norwegen erst in diesem Jahr erschienen ist.
Ein Mann in Not
Ein Mann hat sich festgefahren - das ist der Kern dieser kurzen, reichhaltigen Erzählung von Jon Fosse. Ein langweiliger Nachmittag im Herbst, der Mann weiß nichts mit sich anzufangen, er setzt sich ins Auto. Auf der Landstraße nimmt er den ersten Abzweig nach rechts, den nächsten nach links. Rechts, links, immer so weiter, bis er schließlich den Wagen am Ende eines Waldweges aufsetzt. Nichts geht mehr, weder vor noch zurück. Er braucht Hilfe.
Aber ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte, der kleine Hof, den ich gesehen hatte, war verlassen, und niemand war in der Hütte, die ich gesehen hatte, und zurück zur Landstraße war es zu weit zu gehen. Leseprobe
Seine Gedanken krümeln so vor sich hin, kaum hat er eine Idee, verwirft er sie wieder. Es fängt an zu schneien, es wird dunkel, die Angst kriecht ihn an. Ihm fällt ein, dass er seit Tagen nichts Warmes gegessen hat und dass ihn, falls er hier nicht herausfindet, niemand vermissen wird, so zurückgezogen, wie er lebt.
Mysteriöse Begegnung im dunklen Wald
Jon Fosse braucht nur wenige Sätze, um die Lebensumstände seines namenlosen Helden zu beschreiben, ganz unspektakulär. Umso sympathischer wirkt der Mann.
Wie kam ich bloß auf den Gedanken, im Wald könnte Hilfe zu finden sein, tief im schwarzen Wald. (...) Bescheuert war das. Die reine Idiotie. Dummheit. Schiere, schlichte Dummheit. Leseprobe
Von Ferne sieht der Mann etwas leuchten. Ein weißes Feld, vielleicht auch eine Gestalt, rätselhaft, weder Mann noch Frau. Die Figur kommt näher und näher.
Ich schaute auf die leuchtende Gestalt, umgrenzt von der Dunkelheit. (...) Das Licht war stark, aber nicht schmerzhaft stark. Es war angenehm anzusehen. Es war wundersam schön anzusehen. Die weiße Gestalt und ich. Leseprobe
Eine Todessehnsucht? Der Mann ruft sich zur Räson. So etwas kann es gar nicht geben. Eine Halluzination. Aber immerhin friert er nicht mehr. Außerdem hat er das Gefühl, ein Arm hätte sich um seine Schulter gelegt. Er spricht die Gestalt jetzt an.
Ich sage: wer bist du? Die Gestalt sagt: ich bin, der ich bin - und ich denke, diese Antwort habe ich schon mal gehört.
"Ein Leuchten": Wunderbare Einladung zum Sinnieren
Jon Fosse ist gläubiger Christ. Sicher kennt er die biblische Geschichte von Moses, der eine Stimme aus dem brennenden Dornbusch hört. Auch diese Stimme antwortet: Ich bin, der ich bin. Man könnte sie deuten als: einer, der immer da ist, beständig, durch äußere Umstände nicht zu erschüttern. Jon Fosse nimmt mit dieser Anspielung keine frömmelnde Attitüde ein, keine religiöse Verzückung. Sein einsamer Mann ist eher skeptisch; aber er ist bereit, sich auf unerklärliche, unbekannte Empfindungen einzulassen, und genau das wirkt auf die nüchterne Leserin ansteckend.
Es tauchen weitere Gestalten in der Dunkelheit auf, die Eltern des Mannes zum Beispiel. Sehr komisch lässt Fosse sie die eingefahrenen Dialoge eines alten Ehepaars abspulen. Wer schon viel von ihm gelesen hat, wird einiges wiedererkennen: Menschen, die sich gedanklich im Kreis drehen, sich nicht entschließen können, sich vergewissern müssen, bis sie den Kick bekommen. Wer dagegen den Nobelpreisträger kennenlernen möchte, findet in dieser 80-Seiten-Erzählung den idealen Lesestoff. Familien, zu deren Tradition das Vorlesen gehört, sei diese Erzählung besonders ans Herz gelegt. "Ein Leuchten" ist eine wunderbare Einladung zum Sinnieren.
Ein Leuchten
- Seitenzahl:
- 80 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
- Verlag:
- Rowohlt
- Bestellnummer:
- 978-3-498-00399-9
- Preis:
- 22 €