"Sprache schafft Wirklichkeit": Stimmt das?
"Sprache schafft Wirklichkeit" ist eines der Hauptargumente für eine geschlechtergerechte Sprache. Im Philosophie-Podcast Tee mit Warum fragen sich Denise M'Baye und Sebastian Friedrich, welchen Einfluss die Sprache auf unsere Wirklichkeit nimmt.
"Sprache ist viel mehr als eine reine Kommunikationsform. Wir wirken durch unser Sprechen direkt auf die Welt ein. Das offensichtlichste Beispiel ist eine Eheschließung. Der Sprechakt hat eine konkrete Auswirkung auf unser Leben", sagt Host Sebastian Friedrich in der neuen Folge von Tee mit Warum. Sprachforscher Dr. Stefan Rinner von der Universität Hamburg verweist auf die Sprechakttheorie des US-amerikanischen Philosophen John Austin. "Austin war einer der ersten, der in den Vordergrund gestellt hat, dass wir mit Sprache Handlungen vollziehen", schildert Rinner. "Er unterscheidet das, was wir mit der Sprache tun, von der Wirkung, die wir damit erzielen."
Das wechselseitige Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit
Sprache entsteht aus den Bedürfnissen, Lebensumständen und Notwendigkeiten einer Gesellschaft. "Ein gutes Beispiel ist, dass indigene Völker verschiedenste Ausdrücke für verschiedene Grüntöne haben, die wir so gar nicht mal erkennen", sagt Rinner. "Das hat einfach damit zu tun, dass es für sie einen Nutzen hat und für uns nicht."
Bildet sich die Sprache also an der Wirklichkeit entlang? "Wir passen Sprache der Umwelt an, in der wir leben und wofür wir sie benötigen. Aber die Sprache, die wir haben, beeinflusst auch unsere Wirklichkeit", so Rinner. Er verweist auf den Begriff der Melancholie. "Als das Wort eingeführt wurde, hat ein gewisses Phänomen dann erstmals Raum bekommen."
Judith Butler: Sprechakte konstruieren Geschlechter
Die Wirkung der Sprache auf die Wirklichkeit spielt auch im Werk von Judith Butler eine große Rolle. Butlers Arbeiten und insbesondere das Werk "Gender Troubles" von 1990 hatte großen Einfluss auf die Geschlechterforschung. Sie bezieht sich viel auf Austins Sprechakttheorie, geht aber noch einen Schritt weiter. Ihre These: Durch Aussprüche wie "Es ist ein Mädchen" werde das Geschlecht erst hergestellt. "Es ist nicht nur diese erste Nennung, sondern wir kommen auf die Welt und sind eigentlich permanent mit diesen performativen Äußerungen konfrontiert", fasst Sebastian Friedrich Butlers Theorien zusammen. "Sie behauptet, dass Sprache nicht nur unsere Vorstellungen von der Welt prägt, sondern sich in den Körper noch mit einschreibt." Im Grunde besage Butlers These, dass die Wirklichkeit durch die Wiederholung von performativen Sprechakten hergestellt wird.
Die geschlechtergerechte Sprache will in diesen Kreislauf der Konstruktion von Wirklichkeit eingreifen. "Wenn wir mit der Sprache nicht erkennen, dass es zwischen männlich und weiblich noch ganz viel anderes gibt, dann sehen wir vielleicht manche Menschen auch nicht", erklärt Tee-mit-Warum-Host Denise M'Baye.
Kann Sprache eine Gesellschaft gerechter machen?
Judith Butler reflektiert in ihren Schriften gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Der Streit um die Sprache spiegelt damit auch einen tieferen Konflikt wider. "Sprache gibt uns einen Rahmen, in dem wir uns sicher fühlen. Dieser Rahmen bestimmt unsere Wirklichkeit", stellt Podcast-Host Denise M'Baye fest. "Auf der einen Seite gibt es das Verlangen, Sprache zu dekonstruieren und sie neu aufzubauen. Auf der anderen Seite gibt es deshalb eine große Unsicherheit, weil einem damit ein Stück Wirklichkeit weggenommen wird."
Sprache ist ein wichtiger Faktor, aber nicht der alleinige
Doch inwiefern kann Sprache eine Gesellschaft wirklich gerechter machen? "Man muss da an zwei Punkten ansetzen", sagt Dr. Stefan Rinner. "Zum einen entsteht Sprache aus der Gesellschaft und dem, was es in der Gesellschaft gibt." Es könne deshalb nicht die alleinige Lösung sein, die Sprache zu verändern. Man müsse sich aber dennoch fragen: "Welche Ausdrücke verwendet werden und welche man nicht mehr haben möchte, weil durch die Sprache Abwertungen verstärkt werden können."
So sieht das auch Sebastian Friedrich: "Der Spruch, dass Sprache Wirklichkeit schafft, das sehe ich auch so. Aber was schafft denn noch Wirklichkeit? Wie ist das Verhältnis von Sprache zur Wirklichkeit? Da kommen für mich auch ökonomische, gesellschaftliche und strukturelle Voraussetzungen ins Spiel."