Soziale Kipppunkte in der Klimakrise
Die Demonstrationen in Lützerath haben viele Menschen bewegt und auch medial viel Aufmerksamkeit erregt. Könnten Proteste einer kleinen Minderheit ein Wendepunkt in der Bekämpfung der Klimakrise sein? Dieser Frage geht auch die Wissenschaft nach, man spricht von sozialen Kipppunkten.
Irgendwann, so erzählt es der Klimaforscher Tim Lenton von der Universität Exeter, habe er genug davon gehabt, immer nur schlechte Nachrichten zu überbringen. Sein eigentliches Forschungsgebiet sind die Kippelemente des Klimas - also die kritischen Grenzen des Erdsystems, deren allegorisches Umkippen dafür sorgt, dass sich das Klima radikal verändert. Lenton begann sich damit auseinanderzusetzen, wie wir als Gesellschaft mit der komplexen Bedrohung durch den Klimawandel umgehen können. Wie die Ohnmacht, die manche Menschen angesichts der Klimakrise empfinden, wieder in Handlungsfähigkeit verwandelt werden kann.
Bedrohung durch den Klimawandel: Wie damit umgehen?
Durch seine eigene Urgroßtante wusste er, dass auch kleine Gruppen Großes bewirken können: "Meine Urgroßtante war im Gefängnis, weil sie eine der berühmten Suffragetten war", erzählt er. "Sie wurde inhaftiert, weil sie verdächtigt wurde, am Brand des Teehauses in Kew Gardens beteiligt gewesen zu sein."
Es waren auch ihre Verhaftung, ihr Hungerstreik und eine verhältnismäßig kleine Gruppe an Frauen, die mit ihrem teilweise auch gewaltsamen Eintreten für das Frauenwahlrecht, schlussendlich die Gesellschaft nachhaltig verändert haben. Ein Kipppunkt mit globalen Auswirkungen.
Pop-Band A-ha trug zur Popularität von E-Autos bei
Lenton begann, sich wissenschaftlich mit den sogenannten sozialen Kipppunkten auseinanderzusetzen, die helfen könnten, die Klimakrise zu lösen. Solche Elemente gab es schon in der Vergangenheit, stellte er fest. So trug die Pop-Band A-ha maßgeblich dazu bei, dass in Norwegen Elektroautos schnell populär wurden. Der Marktanteil liegt dort bei 90 Prozent. Indem sie mit anderen bekannten Personen die mediale Aufmerksamkeit auf bestehende Probleme bei der Zulassung und Infrastruktur lenkten, die in der Folge schnell beseitigt wurden.
Kleine Veränderungen in Besteuerung und bei Subventionen
Kleine Veränderungen in der Besteuerung und in Subventionen im Strommarkt im Vereinigten Königreich führten dazu, dass sich Kohlestrom dort nicht mehr lohnt. Sie setzten eine ganze Kaskade in Gang. "Schließlich sind wir an einem unumkehrbaren Kipppunkt angelangt, und das Vereinigte Königreich wird auf keinen Fall zur Kohleverbrennung zurückkehren", so Lenton.
Experten und Expertinnen sehen Klimaneutralität erreichbar
Eine der ersten, die sich mit den sozialen Kipppunkten in der Klimakrise auseinandergesetzt hat, ist die Sozialwissenschaftlerin Ilona Otto von der Universität Graz. Sie befragte im Jahr 2020 für eine Studie in der Fachzeitschrift PNAS Experten und Expertinnen zu solchen möglichen Kippelementen. "Die Frage war: Was könnten solche Elemente sein? Und: Ist es überhaupt möglich, die Klimaneutralität in den nächsten Jahren zu erreichen? Fast alle Experten, die wir gefragt haben, denken, dass es möglich ist."
Auch Bereiche wie Gesundheit und Werbung wichtig
Die Experten und Expertinnen schlugen Interventionen auf verschiedenen Ebenen vor. Zum Beispiel im Finanzsystem, sodass sich Investments in Projekte mit fossilen Brennstoffen nicht mehr lohnen. In Städten, indem dort klimafreundliches Bauen gefördert wird. Oder im Bildungssystem, indem klimabewusste Lebensweisen in den Unterrichtsstoff an Schulen eingebunden werden. Zusätzlich, so Otto, habe sich in den Jahren nach der Studie gezeigt, dass auch die Bereiche Gesundheit und Werbung das Potential hätten, mit wenig Aufwand die Gesellschaft zu ändern. Denn die Corona-Pandemie habe gezeigt, wie wichtig vielen Menschen ihre Gesundheit sei. Würden in der Kommunikation die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen der Klimakrise stärker betont, könnte das Auswirkungen haben. Und auch ein Werbeverbot für Produkte, die fossile Brennstoffe nutzen, könnte zu einem Umdenken führen.
Protestbewegungen haben Potential zum Kipppunkt
Auch neuere Protestbewegungen haben das Potential zum Kipppunkt, meint Ilona Otto. In ihrer Studie wird unter dem Punkt Bildung auch explizit die Bewegung "Fridays for Future" erwähnt. Auch die Initiativen "Lützi bleibt" oder "Die Letzte Generation" könnten nach ihrer Einschätzung großflächig zum Umdenken führen. Gerade auch, wenn die Generation der heute noch jungen Menschen aus Schule, Ausbildung und Studium in Positionen mit mehr Entscheidungsgewalt kämen. Denn gerade diese jungen Menschen unterstützen die Proteste größtenteils.