Marie-Luisa Frick © Andreas Friedle
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AUDIO: Tee mit Warum: Leben wir in einer unsicheren Gesellschaft? (37 Min)

Marie-Luisa Frick: "Wir leben auf hohem Niveau"

Stand: 26.03.2023 18:21 Uhr

Der Podcast Tee mit Warum beschäftigt sich mit der Frage "Leben wir in einer unsicheren Gesellschaft?" Die Philosophin Marie-Luisa Frick sagt, es gebe viele Sicherheiten, aber die Menschen in den westlichen Gesellschaften hätten große Sorgen, ob diese gehalten werden.

In den vergangenen Jahren haben Ereignisse wie die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg oder der Klimawandel viele Gewissheiten in Fragen gestellt. Zwei Drittel der Deutschen äußern in einer repräsentativen Umfrage der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen, dass die unsichere Zukunft sie stresst. Leben wir in einer unsicheren Gesellschaft?

Marie-Luisa Frick, wie würdest du diese Frage beantworten?

Marie-Luisa Frick: Philosophinnen und Philosophen fragen immer danach, was meint ihr mit dem Begriff Sicherheit? Einen auf persönliches Sicherheitsempfinden in öffentlichen Räumen bezogenes Konzept? Oder geht es um umfassendere Schichten von Sicherheit? Auch mit Bedürfnissen, die Menschen befriedigt haben wollen. An was denkt ihr, wenn ihr diese Frage stellt?

Wir wollen das gesellschaftlich beleuchten. Was macht eigentlich eine Gesellschaft sicher und unsicher? Leben wir in einer unsicheren Gesellschaft als beispielsweise in den 90er-Jahren? Welche Kriterien gibt es da?

Frick: Beginnen wir vielleicht bei der Feststellung, dass unsere Gesellschaft sehr viele Sicherheitsversprechen gibt. Wir müssen nicht hungern, wir haben es warm, wir sind gut versorgt. Das ist alles sicherheitsrelevant. Je höher diese Versprechen ausfallen, je mehr eine Gesellschaft verspricht, desto höher ist natürlich auch die Gefahr, dass mal etwas stockt oder in Brüche gerät. Das heißt, dass diese Sicherheit prekär wird oder schwindet. Je weniger Sicherheit in einer Gesellschaft versprochen und von staatlichen Institutionen geleistet wird, desto weniger kann auch verloren gehen. Das heißt, wir leben auf sehr hohem Niveau und das macht uns Sorge, inwiefern wir das gesamtgesellschaftlich halten können. Gerade bei diesen multiplen Krisen, mit denen wir es jetzt zu tun haben. Unabhängig davon gibt es natürlich individuelle Sicherheitsbedürfnisse: Bedürfnisse und Gefühle, die sich ganz unterschiedlich darstellen lassen.

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Schwindet unser Sicherheitsempfinden mit dem Wissen um Sicherheit?

Ich bin in den 90er-Jahren als junge Frau viel Interrail gefahren. Ich hatte damals nicht mal ein Handy: Meine Eltern hatten gar keine Ahnung, wo ich bin, wenn ich mich nicht gemeldet habe. Das ist heute unvorstellbar für die meisten Eltern, ihre Kinder so der Kontrolle entzogen zu haben. Da hat sich vielleicht auch bei uns etwas verändert. Schwierig zu sagen, was genau das ist und was das mit uns macht.

Beim Sicherheitsversprechen habe ich an den Begriff des Stresses denken müssen. Stress ist die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Ist das Gefühl, in einer unsicheren Gesellschaft zu leben, auch ein Resultat dessen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sehr hohe Sicherheitsversprechen macht?

Das scheint mir schon der Fall zu sein. Wir haben eine Gesellschaft, die sich für sehr viele Lebensbereiche zuständig fühlt, Hilfsangebote macht und auch kontrollierend eingreift. Vor 100-200 Jahren waren die meisten Menschen weitgehend auf sich und ihre Familienverbände gestellt, wenn sie Hilfe gebraucht haben, wenn sie existenziell in Schwierigkeiten gekommen sind. Wir haben soziale Netze, die auch für Personen da sind, die nicht durch Familien abgesichert sind. Das ist ein unglaublicher sozialer Fortschritt. Die soziale Sicherheit in den Wohlfahrtsstaaten, die wir in Europa immer noch sind, ist eine unglaubliche Errungenschaft. Sie erodiert an der einen oder anderen Stelle, das kann man nicht leugnen, aber die sollten wir uns bewahren.

Inwieweit kann die Aufklärung dazu beitragen, dass sich Menschen sicherer fühlen? Dass die Gesellschaft sicherer wird?

Die Aufklärung war - verallgemeinernd gesprochen - eine Fortschrittsbewegung. Sie hatte großen Optimismus für die Zukunft. Es gab natürlich auch einzelne Teile, die das nicht so gesehen haben. Aber sie hat in der Wissenschaft, beziehungsweise in den vielen einzelnen Disziplinen von der Optik über die Ingenieurwissenschaften bis zur Philosophie, Wege gesehen, das Leben der Menschen zu verbessern. Direkt zu verbessern: Stichwort Medizin, Stichwort Hygiene. Oder indirekt zu verbessern: Dadurch, dass Menschen eben mehr Wohlstand haben, mehr Sicherheit haben und dadurch - Hoffnung der Aufklärung - auch friedfertiger werden. Dieser Fortschrittsoptimismus ist uns ein bisschen durch die Finger geronnen in den letzten Jahrzehnten - auch im letzten Jahrhundert. Es ist ein wichtiges Erbe der Aufklärung, dass man diesen grundsätzlichen Optimismus, dass Menschen mit klugen Überlegungen, mit Erfindungen mit wissenschaftlichen Arbeiten die Welt erklärbarer und beherrschbarer machen. Und dadurch die menschlichen Zwecke - Lebenserleichterung, Wohlstand, Sicherheit - mit wissenschaftlichen Methoden besser beförder werden können als mit Konkurrenzangeboten wie Mythen, Narrativen, religiösen Erzählungen oder Ideologien, die sich nicht empirisch festnageln lassen. Ich glaube, das ist ein Erbe der Aufklärung. Das es ebenfalls zu bewahren gilt.

Du sagst in deinem Buch "Zivilisiert streiten", dass wir Konflikt in der Gesellschaft brauchen. Dass der Konsens eigentlich gar nicht das Ziel ist. Steht das nicht der allgemeinen Diagnose entgegen, wir würden in einer polarisierten Gesellschaft leben? Man kann ja auch denken, dass zu viel Konflikt eine Quelle von Unsicherheit ist.

Es kommt auf die Qualität und die Austragung dieser Konflikte an. Grundsätzlich sind Konflikte in einer Demokratie natürlich. Man kann es nicht vermeiden und man darf es nicht: Sonst wäre es keine Demokratie. Aber diese Konflikte brauchen eine gewisse Form - und einen Minimalkonsens. Dieser ist die Bejahung des gemeinsamen demokratischen Rahmens.

Dass wir gewaltfrei miteinander streiten, dass wir als Menschen niemanden abwerten - als Untermensch ansehen. Diesen kleinen Minimalkonsens, den haben wir als große Mehrheitsüberzeugung. Wo es wirklich schwierig wird, Konflikte gelassen auszutragen, sind diese großen gesellschaftlichen Fragen, die wir jetzt bearbeiten müssen. Wo es viele Interessen gibt, die sich nicht einfach vereinen lassen. Wir müssen uns diesen Interessenskonflikten stellen. Das ist die große Herausforderung der nächsten Jahre.

Das Gespräch führten Denise M’Baye und Sebastian Friedrich in der Folge "Leben wir in einer unsicheren Gesellschaft?" im neuen Philosophie-Podcast Tee mit Warum. Die ganze Folge finden Sie in der ARD Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Tee mit Warum - Die Philosophie und wir | 22.03.2023 | 06:00 Uhr

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