Leon Weintraub: Ein Mahner für die Lehren aus Auschwitz
Leon Weintraub nimmt 1946 sein Medizinstudium in Göttingen auf. Zuvor hatte er mehrere Konzentrationslager überlebt. Seitdem setzt sich der Auschwitz-Überlebende für die Menschlichkeit ein.
Es ist ein Beethoven-Violinkonzert, das Leon Weintraub auch mehr als sieben Jahrzehnte später mit seiner Studienzeit in Göttingen verbindet. Oft habe er es auf seinem ersten Plattenspieler gehört. Für den Überlebenden ist es die Erinnerung an sein Weiterleben nach dem Grauen der Schoah. Sein Studienbeginn nach dem Holocaust bedeutete für ihn: "Lebensfreude, dass ich überlebt habe und ohne, dass ich das in Worte gekleidet habe, eine Genugtuung: mich haben Sie nicht umgebracht. Ich habe sie besiegt. Ich lebe", sagt Weintraub Jahrzehnte später dem NDR bei einem Besuch seiner ehemaligen Universität in Göttingen.
Schmerzvoller Verlust: Ein Familienleben voller Herzlichkeit

Mit seiner Kindheit verbindet Leon Weintraub vor allem die Wärme seiner Familie. "Es war für den kleinen Jungen wunderbar, vier Schwestern und eine Mutter zu haben, die sich einem angenommen haben, aber fünf Mütter zu haben, die einen kontrollierten, war nicht immer so lustig“, blickt der 99-Jährige in einem Interview mit der ARD schmunzelnd zurück. Er wird am 1. Januar 1926 in Łódź geboren. Wenn Leon Weintraub öffentlich auftritt, um von seinen Erfahrungen zu berichten, trägt der Mediziner oft Hemd und Fliege. Blickt er auf sein Leben nach dem Holocaust zurück, wirkt er zufrieden. Wer ihn bei seinen Begegnungen begleitet, erlebt seinen dezenten und eleganten Humor, mit dem Leon Weintraub durch seinen Alltag geht. Wenn der Holocaust-Überlebende aber über die Ermordung seiner Familienangehörigen spricht, ist ihm anzusehen, welche Überwindung ihn das kosten mag.
Eine Kindheit in einem Armenviertel in Łódź
Die Kindheit von Leon Weintraub ist von Armut geprägt. Gemeinsam mit anderen Kindern habe er in einem Armenviertel von Łódź im stinkenden Schlamm auf der Straße nach ein paar Groschen gesucht, die Passanten verloren haben. Das ist eine seiner Kindheitserinnerungen, erzählt Leon Weintraub. Als er anderthalb Jahre alt ist, stirbt sein Vater. "Meine Mutter hat ihr Privatleben für uns aufgegeben", sagt Weintraub. Sie muss damals seine vier älteren Schwestern und ihn versorgen und betreibt dazu eine kleine Wäscherei. Das Leben der Familie habe sich vor allem in zwei Räumen abgespielt - einem zum Arbeiten und einem zum Wohnen. Zeit für ein ausgeprägtes religiöses Leben sei nicht gewesen.
Kriegsbeginn anstatt seines ersten Schultags am Gymnasium
Am 1. September 1939 soll der damals 13-jährige Leon Weintraub eigentlich seinen ersten Schultag am Gymnasium haben. Er berichtet in einem Interview mit der Jewish Claims Conference, dass er wegen seiner guten schulischen Leistungen ein Stipendium erhalten habe. "Bücher zu lesen und Filme zu schauen, waren für mich ein Schlüsselloch, wo ich eine andere Welt gesehen habe“, sagt Weintraub. Allerdings wird er seine schulische Bildungskarriere nicht fortsetzen können. Die deutsche Wehrmacht marschiert in Łódź ein. Das Schmettern der Soldatenstiefel auf dem Kopfsteinpflaster der Hauptstraße ist Weintraub immer noch in Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg hat begonnen - und für Leon Weintraub ein jahrelanges Grauen.
Zwangsarbeit und Hunger im Ghetto Litzmannstadt

Im Februar 1940 errichten die Nationalsozialisten das Ghetto Litzmannstadt in der besetzten polnischen Stadt Łódź. Dort werden etwa 160.000 Jüdinnen und Juden eingepfercht. "Wir hatten keine Hoffnung. Wir waren abgestumpft", denkt Leon Weintraub zurück. Mehr als 43.000 Menschen sterben an Hunger oder Krankheiten im Ghetto. Die Zwangsarbeit in der Metallverarbeitung im Ghetto und vor allem das Hungergefühl während seiner gesamten Verfolgung hat sich tief in das Gedächtnis des Holocaust-Überlebenden eingebrannt: "Fünf Jahre, sieben Monate und drei Wochen habe ich mich - mit einer einzigen, ich wiederhole, einzigen Ausnahme - nie satt gegessen. Ich konnte nicht einschlafen von dem schmerzhaften Druck des Hungers und bin damit aufgewacht. Ich konnte kaum an etwas anderes denken als daran, wie ich etwas zu essen bekomme, um den Magen zu füllen." Im Sommer 1944 wird das Ghetto aufgelöst. Leon Weintraub wird in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert.
KZ Auschwitz-Birkenau: Letzte Begegnung mit seiner Mutter
Wie viele Bewohner des Ghettos habe auch er nicht geahnt, was ihm nach der Deportation droht. Während der Fahrt in einem Viehwaggon herrscht eine große Stille der vielen Menschen. Daran erinnert sich Weintraub und an den Gestank des Eimers für deren Notdurft. Die Abläufe bei der Ankunft im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau beschreibt der Holocaust-Überlebende in mehreren Interviews genau. Er berichtet, wie er die weißen Isolatoren am stromführenden Lagerzaun erkennt und nach und nach realisiert, dass Auschwitz nicht einfach nur weiteres Ghetto sei. Bei der sogenannten "Selektion" an der berüchtigten "Rampe" trifft der damals 18-jährige Weintraub noch einmal auf seine Mutter. "Das war das letzte Mal, dass ich meine liebe Mutter [gesehen habe, Ergänzung der Redaktion], die ihr Leben buchstäblich uns gewidmet hat, ohne eigenes Privatleben. Da wurde sie an diesem Tage direkt in der Gaskammer ums Leben gebracht.“
Knapp dem Tod entkommen: Flucht aus Auschwitz
Es habe sich ein Geruch verbrannten Fleisches über das Lager gelegt. Der damalige Jugendliche wird in einen Block des Konzentrationslagers gebracht, deren Häftlinge vergast werden sollen. Dann habe er eine Gruppe nackter Häftlinge gesehen. Er habe sie gefragt, warum sie dort stünden. Die Gruppe soll zu einem Arbeitseinsatz ins Lager Groß-Rosen abkommandiert werden, lautet die Antwort, die Weintraub damals erhält. Dazu sollen ihnen Häftlingsnummern tätowiert werden und sie sollen Kleidung erhalten. Kurzerhand und ohne weiter zu überlegen, habe er sich der Gruppe angeschlossen. Das letzte Bild, das er von Auschwitz in Erinnerung habe, sei der Leichnam einer Frau, der am stromführenden Zaun hängt. Sie habe Selbstmord begangen.
Zwangsarbeit und Folter in weiteren Konzentrationslagern
Auf diese Weise entkommt Leon Weintraub der Vergasung in Auschwitz-Birkenau. Aber der junge Mann muss in den Konzentrationslagern Groß-Rosen, Flossenbürg und Natzweiler-Struthof weitere Martyrien erleiden. Die beschreibt der Shoah-Überlebende in mehreren Zeitzeugeninterviews präzise wie aus einem fotografischen Gedächtnis. Dazu zählten Zwangsarbeit und Folter wie das Verprügeln mit einem mit Sand gefüllten Gummiknüppel. Auch muss er mit ansehen, wie andere Häftlinge von SS-Wachleuten erhängt wurden. "So etwas vergisst man nicht", sagt Weintraub. Bei seiner Befreiung im April 1945 wiegt der inzwischen 19-Jährige nur noch 35 Kilogramm und ist an Typhus erkrankt.
Wiedersehen mit überlebenden Schwestern
Durch eine zufällige Begegnung mit anderen Überlebenden erfährt Leon Weintraub, dass seine Schwestern noch am Leben sind. "Ich hatte das Gefühl frei zu sein, erst als ich meine Schwestern durch Zufall in Bergen-Belsen wiedergefunden habe. Da fühlte ich mich als freier Mensch“, resümiert Weintraub. Insgesamt überleben 16 von 80 Mitgliedern der Familie den Holocaust. "Nur weil sich diese Partei das Recht genommen hat zu bestimmen, wer Mensch ist und wer nicht richtig Mensch ist", sagt Weintraub rückblickend über die NSDAP. Das Land der Dichter und Denker, habe Menschen zu Einweggegenständen gemacht, die beseitigt wurden, sobald sie für die Kriegsmaschinerie nicht mehr nützlich gewesen seien.
Medizinstudium: Die Fortsetzung einer unterbrochenen Bildungskarriere

Leon Weintraub fasst den Entschluss, als Arzt arbeiten zu wollen. Er bekommt 1946 von der britischen Militärregierung einen Studienplatz für Displaced Persons an der Universität Göttingen zugewiesen. Die deutsche Sprache hatte er sich nach seiner Befreiung zunächst selbst durch die Lektüre zahlreicher Bücher und mithilfe seiner Kenntnisse des Jiddischen beigebracht. Im ersten Semester legte er seine Abiturprüfungen und zugleich die ersten Prüfungen im Medizinstudium erfolgreich ab.
Weiterleben nach dem Grauen
Während seines Studiums lernt der junge Medizinstudent Weintraub die Slavistin und Übersetzerin Katja Hof kennen. Sie gründen gemeinsam eine Familie. 1950 kehren sie in Weintraubs Geburtsland Polen zurück. Dort promoviert er und arbeitet als Gynäkologe und Geburtshelfer. Nachdem er 1969 aufgrund des zunehmenden Antisemitismus in Polen seine Stelle verloren hatte, fasst der Arzt den Schluss, nach Schweden auszuwandern. 1970 stirbt seine Ehefrau Katja. Seit 1992 setzt sich Leon Weintraub gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau Evamaria Loose-Weintraub gegen das Vergessen ein. Es sei für ihn eine Verpflichtung gegenüber seinen ermordeten Familienmitgliedern. Die Erinnerung an Millionen unschuldiger Opfer verblassen zu lassen, wäre gleichbedeutend damit, ihnen ein zweites Mal das Leben zu rauben, mahnt Weintraub.
Unermüdliches Engagement gegen das Vergessen
Für sein Engagement wird er mit dem Bundesverdienstkreuz und der Paracelsus-Medaille der Bundesärztekammer geehrt. 2022 erscheint im Göttinger Wallstein Verlag seine Biografie mit dem Titel "Die Versöhnung mit dem Bösen. Die Geschichte eines Weiterlebens." Hass und Rache habe Weintraub aus seinem Wortschatz gestrichen. Er könne den Tätern, den Mördern seiner Mutter, nicht vergeben, aber für die Zukunft suche er Versöhnung. Der Gedanke an ein unaufhörliches gegenseitiges Anklagen und Beschuldigen sei für ihn unerträglich.
"Liberté, Egalité, Fraternité - also Freiheit, Gleichheit, Brüderschaft sind keine leeren Worte. Ich versuche, nach diesen Werten zu leben." Dr. Leon Weintraub
Ein Mediziner, der erinnert und zugleich mahnt

Die nationalsozialistische Rassenideologie entbehre jeglicher wissenschaftlicher Grundlage. Das Gewebe sieht bei allen gleich aus - egal, welche Hautfarbe jemand hat, konstatiert der Arzt Weintraub. Unermüdlich reist der 99-Jährige durch ganz Europa, um zu erinnern und vor allem mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen. "Ich versuche, dass [meine Werte, Ergänzung der Redaktion] durch meine Gespräche mit den jungen Menschen eine Art Vakzin werden, dass sie in sich einen Widerstand aufbauen und nicht den Verlockungen der Rechtsradikalen folgen." Die junge Generation müsse ihrer Verantwortung gerecht werden, dass so etwas nie wieder geschieht.
Im November 2024 ruft Weintraub in seiner Rede anlässlich des Jahrestags der Novemberpogrome im Niedersächsischen Landtag dazu auf: "Bitte nehmt die Worte der Rechtsradikalen ernst. Bitte tut alles, um ihnen das Handwerk zu legen." Auch in seinem 100. Lebensjahr bleibt Leon Weintraub Erinnerer und zugleich Mahner. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2025 fordert er in einem offenen Brief mehr Humanität in der Migrationspolitik ein. Bei der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau warnt er auf Polnisch vor Homophobie, Antisemitismus und Rassismus: "Wir - die Überlebenden - wissen, dass aktive Verfolgung die Konsequenz davon ist, als 'anders' angesehen zu werden."
