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Sally Perel: Er überlebte den Holocaust in der "Haut des Feindes"

Stand: 02.02.2024 05:00 Uhr

Dank einer falschen Identität überlebte Sally Perel aus Peine den Holocaust. Als Josef "Jupp" Perjell arbeitete er für die Wehrmacht und machte eine Ausbildung bei VW in Braunschweig. Er starb am 2. Februar 2023 mit 97 Jahren.

von Stefanie Grossmann

Sally Perel gehörte zu den letzten Zeitzeugen des Holocaust. Als Sohn eines Rabbiners kommt er am 21. April 1925 als Salomon Perel in Peine zur Welt. Weil er seine jüdische Herkunft verschleiert und sich als "Volksdeutscher" ausgibt, überlebt er den Holocaust. "Dass ich so überlebt habe, ist wie ein Wunder", sagt Perel 2020 in einem NDR Interview. Und einen Ort, in dem man ein Wunder erlebt habe, den liebe man auch für immer. Über seine bewegte Geschichte beginnt er 40 Jahre nach Kriegsende ein Buch zu schreiben: "Ich war Hitlerjunge Salomon" erscheint 1990. Aus seiner neuen Heimat in Israel begibt er sich danach immer wieder auf Lesereise nach Deutschland. In Schulen erzählt von seinen Erlebnissen aus der NS-Zeit, auch um die Erinnerung wachzuhalten. Das sei der Sinn seines Überlebens, so Sally Perel damals.

Familie Perel flüchtet vor den Nazis nach Polen

Seine Eltern kommen 1918 aus Russland nach Deutschland und eröffnen in Peine bei Braunschweig ein Schuhgeschäft. Sally wächst mit drei älteren Geschwistern auf: Bertha, David und Isaak. Wegen der Nürnberger Rassengesetze wird der damals Zehnjährige 1935 von der Schule verwiesen. Die Eltern werden gezwungen, ihr Geschäft aufzugeben. Die Familie emigriert daraufhin ins polnische Łódź - hier kommen sie zunächst bei der Schwester von Sallys Mutter unter.

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Porträt des NS-Überlebenden Salomon "Sally" Perel © picture-alliance/dpa Foto: Marijan Murat

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"Vergisst nicht, wer du bist"

Vor Sally Perel liegen Jahre der Flucht. Mit dem Überfall auf Polen im September 1939 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs flieht der damals 14-Jährige mit seinem 30-jährigen Bruder Issak in Richtung Grodno in Ostpolen, das zu der Zeit sowjetisch besetzt ist. Heute gehört die Stadt zu Belarus. Bei der Trennung gibt ihm seine Mutter die Worte "Geh, denn du sollst leben!" mit auf den Weg. Der letzte Wunsch des Vaters lautet: "Vergiss nicht, wer du bist."

Beim Überqueren des Grenzflusses Bug kentert das Boot von Sally und Isaak. Dabei verlieren sich die Wege der Brüder, Sally wird von Rotarmisten aus dem Wasser geholt und kommt in Grodno in einem Waisenhaus unter. Auch Isaak überlebt, ihn verschlägt es ins Baltikum.

Als "Volksdeutscher" entgeht er dem Tod

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 verhaftet die Wehrmacht den mittlerweile 16-jährigen Sally. Er weiß, dass er nur eine Chance hat, um zu überleben: Er entledigt sich seiner Papiere. Und er gibt sich geistesgegenwärtig als "Volksdeutscher" aus. So bezeichnen die Nationalsozialisten Angehörige der deutschen Minderheiten in Osteuropa. Durch seine Kühnheit entgeht Sally Perel der Erschießung.

Sally Perel nimmt den Namen Josef "Jupp" Perjell an

Und er nimmt einen anderen Namen an: Aus Sally Perel wird schließlich Josef "Jupp" Perjell - und ein Mitglied der deutschen Streitkräfte: "Ich wurde von der Wehrmacht aufgenommen und in eine Uniform gesteckt."

Übersetzer für die Wehrmacht in Russland

Bis Kriegsende führt Sally Perel ein Doppelleben. Er ist Opfer wie Täter gleichermaßen: In Russland arbeitet er zwei Jahre als deutsch-russischer Übersetzer für die 12. Panzerdivision der Wehrmacht. Eine Aufgabe, die starken Widerwillen in ihm auslöst, denn es gehört auch dazu, sowjetischen Partisanen in Gefangenschaft die Todesurteile der deutschen Feldgerichte zu übersetzen. Gleichzeitig gewinnt er das Vertrauen seiner Einheit. Der kinderlose Kompanie-Chef Hauptmann von Münchow plant gar, ihn nach dem Krieg zu adoptieren: "Du wirst Joseph von Münchow heißen." Doch zunächst schickt der Hauptmann "Jupp" 1942 - ausgestattet mit allen wichtigen Papieren - zurück nach Deutschland, damit er eine Ausbildung macht. Sally Perel alias Josef Perjell besucht die Akademie für Jugendführung der Hitlerjugend in Braunschweig - eine Berufsschule und Elite-Anstalt. Parallel beginnt er ab Sommer 1943 eine Ausbildung als Werkzeugmacher im Vorwerk des Volkswagenwerks. Die Lehrlinge in diesem NS-Prestigeprojekt sollen die künftige Facharbeiter-Elite bilden und Teil einer breiten, den NS-Staat tragenden Mittelschicht werden.

Als Hitlerjunge bei VW - und an der Grenze zum Selbsthass

"Ich war kaserniert im Bann 468 der Hitlerjugend. Gleichzeitig waren wir Lehrlinge im Volkswagen-Vorwerk. Das war eine schreckliche Zeit für mich. Ich stand jede Minute unter der Gefahr, entdeckt und hingerichtet zu werden", erinnert sich Perel 2012 bei einem Vortrag in Braunschweig. Der Spagat, Jude zu sein und als Nazi zu leben, ist damals schwer für ihn auszuhalten. Er lebt in zwei komplett voneinander abgeriegelten Welten. Nachts in seinen Träumen sei er bei seinen Eltern im Ghetto gewesen, am nächsten Morgen wieder in der Uniform mit den Hakenkreuzen, schildert er 2020 im SWR. Die ständige Konfrontation mit dem Nationalsozialismus und die damit einhergehende Indoktrination führen dazu, dass er sich mit dieser Politik zu identifizieren beginnt, wie er Jahre später bekennt: "Auch mir träufelten sie das Rassengift ein." In seiner Zeit im Internat erfährt Perel eine Erziehung, die ihn zu einem begeisterten Nazi machen soll. "Ich schrie 'Heil Hitler'." Heute sagt er: "Ich kam an die Grenzen eines Selbsthasses."

Im Frühjahr 1945 muss Sally Perel wie viele Angehörige in der Hitlerjugend als letztes Aufgebot ins Gefecht ziehen, um die vorrückenden Alliierten aufzuhalten. Am 22. April wird er von den Amerikanern in der Nähe von Braunschweig gefangen genommen, kommt aber kurze Zeit später wieder frei. Erst nach Kriegsende erfährt Sally Perel vom Ausmaß der Judenvernichtung. Außer seinen Brüdern hat kein Mitglied der Familie Perel den Holocaust überlebt.

Nur langsam wird aus "Jupp" wieder Sally Perel

Und doch fällt es Sally Perel schwer, sich von seiner falschen Identität zu lösen: "Die Haut des Feindes klebte so fest an mir, da hat es eine ganze Zeit gedauert, bis sie sich gelöst hat", beschreibt er rückblickend seine Zerrissenheit. Aber er sei dem "Jupp" auch bis heute dankbar - ohne ihn hätte er nicht überlebt. Wie seine beiden Brüder emigriert auch Sally Perel 1948 von Deutschland nach Israel. Zunächst dient er in der Armee, im Regiment 68 der Jerusalemer Division unter Moshe Dayan. Er will unbedingt beim Aufbau des jungen Staates Israel helfen und sich eine neue Existenz aufbauen. 1959 heiratet Perel seine Frau Dvora, sie bekommen zwei Söhne. Seine Überlebensgeschichte, das wird ihm schnell klar, ist in Israel problematisch. Darum sagt er in diesen Jahren meistens nur, dass er mit falschen Papieren überlebt habe.

"Hitlerjunge Salomon" macht Sally Perel weltweit bekannt

Lange braucht Sally Perel dafür, seine Lebensgeschichte zu verarbeiten. Selbst seiner Familie berichtet er erst nach Jahrzehnten von seinem Schicksal, als er nach einer Herzoperation Mitte der 80er-Jahre ein Buch zu schreiben beginnt. Seine Erlebnisse während des Holocaust verarbeitet er in seiner Autobiografie "Ich war Hitlerjunge Salomon". Sie erscheint im Jahr 1990, zwei Jahre später erstmals in deutscher Übersetzung. Weltweit bekannt wird seine Geschichte durch die Verfilmung: "Europa, Europa" von Agnieszka Holland findet viel Beachtung und erhält zahlreiche internationale Preise und eine Oscar-Nominierung. In Deutschland kommt der Film unter dem Titel "Hitlerjunge Salomon" in die Kinos.

Jugendliche gegen den Nationalsozialismus "impfen"

Fortan setzt sich Sally Perel unermüdlich gegen Antisemitismus und Rassismus sowie für Respekt und Toleranz ein. Es sei die Pflicht eines Überlebenden an, aufzuklären - vor allem Kinder und Jugendliche: "Ein junges Hirn kann man schnell vergiften." Immer wieder geht er auch noch im hohen Alter auf Lesereise. Wenn man eine Mission habe, habe man auch die Kräfte dazu. Es seien die jungen Jahre, in denen der menschliche Charakter geprägt wird - und Rechtsradikale und Neonazis versuchten durch Propaganda in Schulen gezielt, Kinder und Jugendliche zu beeinflussen. Setzten diese sich aber intensiv mit Toleranz und Respekt auseinander, sei die Gefahr viel geringer, empfänglich für die Ideen des Nationalsozialismus zu sein, zeigt sich Perel überzeugt. "Ich will euch dagegen impfen", so die Botschaft an seine jungen Zuhörer und Zuhörerinnen. Er selbst aber sei begleitet von innerer Zerrissenheit: "Jupp" bleibe ein Teil von Sally, die Zeit in verborgener Identität habe sein Leben geprägt. "Aber der Sally, der Israeli, der ist der Dominante und verdrängt ihn."

Ministerpräsident Weil: "Wir alle sind ihm unendlich dankbar"

Im Alter von 97 Jahren starb Sally Perel am 2. Februar 2023 im Kreis seiner Familie in Israel. Mit ihm ging einer der nur noch wenigen Holocaust-Überlebenden, die als Augenzeugen von der Brutalität, dem Grauen und dem Vernichtungswahn des NS-Regimes erzählen können. "Es muss ihm sehr schwer gefallen sein, sich als Nazi auszugeben, um als Jude zu überleben", teilte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) in einer ersten Reaktion auf Perels Tod 2023 mit. "Wir alle sind ihm unendlich dankbar dafür, dass er von dieser Zeit berichtet, geschrieben und immer wieder den Kontakt zu Kindern und Jugendlichen gesucht hat."

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Dieses Thema im Programm:

NDR//Aktuell | 02.02.2023 | 21:45 Uhr

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