"Unternehmen Barbarossa": An der Front - Wo war mein Vater?
Der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion unter dem Decknamen "Unternehmen Barbarossa" am 22. Juni 1941 markiert eine weitere Eskalation. Wie erlebten Soldaten den Zweiten Weltkrieg? Eine Annäherung mithilfe jüngst entdeckter Privat-Dokumente.
Hitler hatte die Vernichtung des Bolschewismus schon lange zu einem ideologisch-politischen Hauptziel des Nationalsozialismus erklärt. Mit dem Angriff der Sowjetunion, einem Überraschunsüberfall ohne Kriegserklärung, setzt er sich über den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt, dem Nichtangriffspakt vom 23. August 1939, und alle rechtlichen Konventionen hinweg. Der Angriff am 22. Juni 1941 eröffnet mit dem Deutsch-Sowjetischen Krieg als Teil des Zweiten Weltkriegs einen wahren machtpolitisch und rassenideologisch motivierten Vernichtungsfeldzug. Hitlers Plan: die Eroberung der Sowjetunion - durch Vernichtung, Ermordung und Vertreibung vieler Millionen Menschen.
Kriegserlebnisse in persönlichen Dokumenten festgehalten
Davon, was die Soldaten im Zweiten Weltkrieg wirklich erlebt haben, ist bis heute vieles unerzählt geblieben. Vor allem, was der Krieg mit ihnen gemacht, wie er sie verändert und gezeichnet hat. Davon weiß auch Pitt Venherm aus Klein Vielen an der Mecklenburgischen Seenplatte zu berichten. Von einem Vater an der Front, der nie darüber gesprochen, den Krieg aber minutiös dokumentiert hat: in Feldpostbriefen, Fotos und Filmaufnahmen.
Erst jetzt, nach fast drei Jahrzehnten, hat Pitt Venherm auf dem Dachboden seines Hauses in Klein Vielen diese Hinterlassenschaften seines Vaters entdeckt, von der er nichts geahnt hat. Und mit diesem Fund sollte er seinen Vater 30 Jahre nach dessen Tod noch einmal ganz anders kennenlernen. "Das war schon sehr berührend", erzählt Venherm sichtlich bewegt. "Und es hat auch Gänsehaut verursacht, wo wir überlegt haben: Was erwartet uns jetzt da? Was steht da geschrieben in den Briefen? Was ist da drin? Was hat er wirklich erlebt?"
Wie viel muss man über die Vergangenheit des Vaters wissen?
Venherm blättert in einer großen Kladde mit der Aufschrift "Feldpostbriefe, 30. Dezember 1942". Wie viel muss man über den eigenen Vater wissen, bis man ahnt, wer er war? Diese Frage hat sich Pitt Venherm seit dem Fund immer wieder gestellt. Sein Vater Wilhelm Venherm erhält im August 1939 den Einberufungsbefehl. Viel mehr als Daten wusste Sohn Pitt bislang nicht, sagt er.
Als Pitt Venherm 1947 geboren wird, ist der Krieg vorbei. "Meine ganze Erziehung hatte mit Krieg ja nichts mehr zu tun. Es wurde auch nicht über den Krieg gesprochen", erinnert er sich. "Wahrscheinlich, weil man auch nicht drüber sprechen konnte. Es war alles noch sehr nah. Die Gräuel waren da und alles, was geschehen war."
Dokumentationen des Krieges auf Film - und bleibende Fragen
Am meisten hätten ihn die alten Blechdosen mit Filmrollen überrascht. Darin: Filme ohne Ton, auf denen sein Vater Wilhelm, genannt Will, den Krieg dokumentiert hat. Will Venherm ist damals Telegraphen-Pionier, zieht die Strippen für die Nachrichtenübermittlung und zum Abhören des Feindes. Nach seinem Einberufungsbefehl ist er 1939 beim Überfall auf Polen dabei. Da glaubt er noch an die Propaganda, die die Nationalsozialisten verbreiten: dass die polnische Armee die deutsche Wehrmacht angegriffen und man deshalb "ab heute zurückgeschossen" habe. So steht es in einem Brief, den Pitts Vater Will im September 1939 an seine Ehefrau Elli schreibt:
"Meine liebe Elli-Frau, leise Hoffnung hatten wir alle, dass es noch so vorüber gehen würde, zumindest hofften wir alle, wenn der polnische Größenwahn bezwungen sei, müsste das Ringen ein Ende haben." Felpostbrief von Wilhelm Venherm an Ehefrau Elli, September 1939
Über das, was wirklich passiert ist, rätselt Sohn Pitt bis heute: "Also, man sieht ja nur die Bilder, er war ja immer hinter den Fronten. Aber ist er auch in Gemetzeln gewesen? Ist er in kleine Schlachten, in Gewehrfeuer verwickelt gewesen, hat er selbst geschossen, hat er getötet? Das alles weiß ich nicht."
Hitler-Aufnahmen: "Er war wohl selbst überrascht"
Als Deutschland den Krieg auf ganz Europa ausweitet, kommt Wilhelm Venherm im Frühling 1940 über die Niederlande, Belgien und Luxemburg nach Frankreich. Der Westfeldzug, auch Frankreichfeldzug genannt, führt innerhalb weniger Wochen zur Niederlage und Besetzung der bis dahin neutralen Staaten Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich. Als deutsche Truppen Paris kampflos besetzen, besucht Adolf Hitler die Stadt, um den Soldaten zu danken.
Und der Sozialdemokrat Will Venherm filmt, wie Hitler das Spalier der Soldaten in der französischen Hauptstadt abschreitet. Pitt Venherm kann es noch immer nicht fassen, dass sein Vater Wilhelm diese Aufnahmen gemacht hat: "Weil mein Vater dort stationiert war, einfach dort rumlief mit seiner Kamera und die Bilder eigentlich auch so aussehen, als sei das nicht gestellt", so Venherm. "Er war ja auch kein Hofberichterstatter. Ich glaube, er war selbst überrascht, als da dieser Adolf Hitler an ihm vorbeimarschierte. Ich kann mir das nicht anders erklären."
Das Bangen zu Hause: Der Weltkrieg sitzt mit am Tisch
Doch der Krieg sitzt immer auch zu Hause, im westfälischen Rheda-Wiedenbrück, mit am Tisch. Dort lebt Will Venherms Ehefrau Elli und hofft, dass ihrem Mann nichts passiert, dass er auf Heimaturlaub kommt. Fast täglich schreibt Wilhelm ihr. Als er endlich da ist, im Winter 1942, basteln sie gemeinsam Weihnachtsgeschenke für "ihre Menschlein", wie Will die gemeinsamen Kinder nennt. Auch davon hat Sohn Pitt nun Fotos und Filmaufnahmen gefunden, die ihn sehr bewegt haben - vor allem die Fragezeichen wie "wenn ich dann Heimaturlaub bekomme" oder "wenn ich dann noch lebe", die in den Dokumenten mitschwingen. "Ja, 1943 oder 1942, 'Was kann ich meinen Kindern schenken?'", zitiert er. "Und dann eben Zeichnungen zu machen und sich Ideen auszuarbeiten, ein Stück Holz zu besorgen und ein Dorf zu schnitzen, so auszusägen und anzumalen", versucht Pitt Venherm, sich die damaligen Situationen vorzustellen.
An der Ostfront: Wie viel totaler kann der Krieg noch werden?
1942 muss dann auch Wilhelm Venherm an die Ostfront. Wo genau er ist, darf er nicht mehr schreiben. In den Briefen aus dieser Zeit findet sich oft kein genaues Datum, sondern nur der Monat. Seine Fotos zeigen das Leben der russischen und später ukrainischen Bevölkerung: Frauen mit Kopftüchern, greise Bauern, Kinder.
Inmitten erschöpfter und vom Krieg gezeichneter Soldaten erlebt Will Venherm, wie Propagandaminister Joseph Goebbels nach der Niederlage von Stalingrad und den zunehmenden Bomben-Angriffen auf deutsche Städte mit seiner sogenannten Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 die Stimmung heben will. Und fragt sich, wie viel totaler dieser Krieg noch werden kann.
Ob Wilhelm Venherm auch an der sogenannten Donezbecken-Operation an der deutsch-sowjetischen Front im August und September 1943 beteiligt ist, weiß die Familie bis heute nicht. Nicht, was er gesehen, erlebt oder möglicherweise selber getan hat. Aber er hat überlebt - anders als die knapp 3,5 Millionen deutschen Soldaten, die für den Größenwahn des NS-Regimes an der Ostfront ihr Leben ließen.
Leben nach Kriegsende noch "ziemlich braun"
Ab 1943 ist Will Venherm der Firma Telefunken in Berlin. Dort erlebt er das Kriegsende. Doch in den Köpfen geht der Krieg noch lange weiter. Das erleben auch Pitts ältere Geschwister. Seine Schwester Hedda ist die erste, die in den 60er-Jahren auswandert. Später folgt sein Bruder Wilfried. "Das Leben war, glaube ich, doch noch ziemlich braun. Es war geprägt von der faschistischen Zeit und das haben die nicht ausgehalten", resümiert Pitt Venherm.
Er selbst wird durch den Vietnamkrieg politisiert. In der alten Bundesrepublik ist er Zivildienstleistender Nummer 573. Sein Vater Will ist stolz, dass Pitt den Wehrdienst verweigert. Jahre später, nach dem Fall der Mauer, zieht Pitt Venherm nach Klein Vielen, an die Mecklenburgische Seenplatte. Im Gepäck: die Kartons mit den Briefen, Fotos und Filmen seines Vaters. Doch Wilhelm Venherm wird die neue Heimat seines Sohnes niemals kennenlernen. Er stirbt 1991.
Das Erbe des Vaters: "Das trage ich in mir"
"Ich bin, glaube ich, ein Großteil meines Vaters", sagt Venherm heute. "Das trage ich in mir." Er ist Kameramann geworden - und hat damit geschafft, was sein Vater Will immer werden wollte. Bevor der Krieg dazwischenkam. "Dass ich Fotograf bin, dass ich Filme gedreht habe oder immer noch drehe. Das alles kommt ja eindeutig von meinem Vater."
Manchmal geht Pitt Venherm jetzt nach oben in sein Zimmer und legt die Filme seines Vaters Will ein. Schaut die alten Aufnahmen an. Die seine Eltern zeigen, wie er sie niemals gekannt hat. Vor mehr als 80 Jahren, bevor der Krieg den Vater an die Front führte. Sein Vater Wilhelm Venherm, genannt Will, wäre im Mai 115 Jahre alt geworden.